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Hervorgeholt: Ich draußen vor der Tür

Über abgebrochene Drehmeißel, Geschichtsstunden und mathematische Potenzgesetze

 Der fliegt auch gleich raus. ("Na warte!" Holzstich um 1900 war Vorlage für diesen Weihnachtskalender (www.dackelparadies.de))
Der fliegt auch gleich raus. ("Na warte!" Holzstich um 1900 war Vorlage für diesen Weihnachtskalender (www.dackelparadies.de))

 

Heute habe ich Dir eine Geschichte vom September 2020 nochmal mitgebracht:

 

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Öfter stand ich früher mal "draußen vor der Tür". Und sicher nicht immer schuldlos. 

 

Nein, meistens war es in der Schule oder in irgendeinem anderen Zusammenhang, wo eine Person sich um die Erziehung der Jüngeren bemühte. Nicht immer ging es problemlos dabei zu. Es kam zu Zwischenfällen, die manchmal dazu führten, dass jemand (vorübergehend) rausgeschmissen wurde. Vor die Tür eben. Wie ein ungezogener Hund, der etwa die Bratwurst vom Mittagstisch geklaut hat. Oder vom Weihnachtsbaum, so wie auf dem Bild.

 

Auch im Unterricht ging es um die Wurst, manchmal.

 

Mein Wissensdurst und damit auch der Widerspruchsgeist wurden angeregt - insgesamt eigentlich nicht so schlecht, oder? Das betraf natürlich nur Dinge, die mich interessierten. Beispielsweise Mathematik, Geschichte, Politik, Literatur. In Astronomie dagegen schlief ich möglichst unauffällig und friedlich, weil es mir nicht so spannend erschien, welcher Steinhaufen im Weltall um den anderen kreist. Immer hatte ich ein handliches Buch dabei, so dass ich während des Unterrichts lesen konnte, falls es langweilig werden sollte. Seit dieser Zeit begeistern mich literarische Klassiker. Handliche Reclam-Hefte mit Heine, Goethe, Schiller, Shakespeare, Puschkin. Den "Faust" und das "Wintermärchen" liebe ich seit dieser Zeit. Diese schöne Sprache.

 

Stand ich dann vor der Tür, konnte ich auch nicht einfach nach Hause gehen, denn die Schultasche war (samt verstecktem Buch) ja noch im Klassenzimmer. Also wartete ich, bis ich wieder reingerufen wurde oder Pause war. Nicht immer. Dauerte es zu lange, dann ging ich heimlich eine rauchen, wenn ich Zigaretten einstecken hatte.  Oder ich spazierte durch das während der Unterrichtsstunden herrlich ruhig und einsam daliegende Treppenhaus des alten, großen Schulgebäudes. Hohe steinerne Korridore mit großen Fenstern. Seltenst traf man dabei mal einen anderen "Underdog", der ebenfalls vor die Tür verwiesen worden war. Mit dem konnte man sich ganz leise unterhalten. Nur durfte man sich dabei nicht erwischen lassen, denn konspiratives Underdoggeplauder war nicht gestattet. Das Rauchen aber auch nicht.

 

Und manche Fragen eben auch nicht. 

 

Die führten dann meistens zu diesen Rauswürfen. Heute, wo ich selber älter bin, kann ich mich in die Lehrer hineinversetzen. Sicher waren sie nicht einfach nur genervt, wollten nach Hause, hatten Stress mit ihren Kindern und Partnern oder dem Schuldirektor. Vielleicht war auch noch der Hund weg, man bekam kein Ersatzteil für die kaputte Waschmaschinenpumpe, Weihnachten drohte und das Knie tat weh..... Dann kam da auch noch so eine Göre (wie ich) daher und fragte einem ein Loch in den Bauch. Nicht immer einfach für die Pädagogen.

 

Beispiele? Klar, pass auf:

 

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Im Geschichtsunterricht ging es um Staatsformen. Ich fragte die Lehrerin, wieso ein Staat denn gleichzeitig demokratisch und eine Diktatur sein könne. Sie guckte mich fragend an. Ich antwortete: "Na wir, unser Land heißt doch "Deutsche Demokratische Republik" und hier herrscht die Diktatur der Arbeiterklasse." Sicher war die Lehrerin in dem Moment, noch dazu vor der ganzen Klasse, überfordert. Was sollte sie darauf auch antworten? Damals stellte ich diese Frage nicht, um ihren Unterricht zu stören oder sie gar zu provozieren - wie sie mir unterstellte - sondern weil ich das wirklich wissen wollte. Wie DAS sein kann. DAS ging also alles nicht und sie warf mich raus.

 

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Im Mathematikunterricht beschäftigte die Klasse sich mit Potenzgesetzen. Wir lernten, das a0 = 1 ist. Ich fragte, wie das zu erklären sei, das Irgendwas hoch 0 immer 1 ist. Das erschien mir eigenartig und irgendwie unmoralisch, hochstaplerisch. Irgendwas hoch Null ist immer eins. Das klang so wie "Keinen Arsch in der Hose, aber 'La Paloma' pfeifen....". Es musste also eine kluge Erklärung dahinter stecken in dieser so reinen und unbestechlichen Wissenschaft der Mathematik, oder? Die gibt es auch, diese Erklärung. Man kann sich diese Definition, denn darum handelt es sich, aus den Potenzgesetzen recht einfach herleiten, HIER.. Aber an dieser Stelle bekam ich die Information damals nicht, sondern flog aus dem Klassenzimmer, wegen Störung des Unterrichts. Später schrieb ich mir diese Definition zu Hause an die Wand und vorne auf mein Hausaufgabenheft. Zur Erinnerung, das auch zuerst absurd Erscheinendes erklärbar sein KANN. Und verständlich. Man muss es also nur wissen WOLLEN. Auch faszinierte mich, dass man etwas "definieren" konnte, was dann eben so war.

 

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Unser Stundenplan in der Schule enthielt für die Kleinen das Fach "Werken", für die Großen war das dann "Produktive Arbeit", abgekürzt PA. Ab der 7. Klasse, also ca. im Alter von 12/13 Jahren nahm man an PA teil.  Dieses Fach fehlt heute im Schulsystem m. E. n. ungemein. Man arbeitete in Produktionsbetrieben oder PA-Lehrwerkstätten ein paar Stunden lang pro Woche. Machte zum Beispiel einfache Montagearbeiten oder mechanische Bearbeitung und lernte das Klarkommen im produktiven Umfeld. 

 

Ein Vorfall aus meinem PA-Unterricht ist mir in Erinnerung gebliebenen. Da flog ich nicht aus dem Klassenzimmer, sondern verließ selbst die Werkstatt - nachdem ich kurz hintereinander zwei Drehmeißel an der Drehbank abbrach, nicht mit Absicht. Auch spitzfindige Fragen hatte ich dem Meister nicht gestellt. Er war trotzdem wütend, warf krachend irgendein schuldloses Werkzeug durch die Werkstatt und schrie mich an, dass er mir noch mit dem Lippenstift eine Fünf auf die Stirn malen wolle. Das war damals die schlechteste Zensur, die er vergeben konnte. 

 

Sicher hab ich mich ungeschickt angestellt und war dann auch noch geschminkt - das hat den Meister wahrscheinlich aufgeregt. Der Vorteil war, dass ich hier nicht vor der Werkstatt rumstehen musste. Sondern ich ging wutentbrannt nach dieser meisterlichen Runderneuerung schnurstracks in die Umkleide, zog mich um und verließ diesen Ort. Sauer natürlich, schwänzte ich den Unterricht des weiteren Tages. Die Konsequenz war eine Aussprache kurze Zeit später in der Schule mit dem Werkstattmeister, meiner Klassenlehrerin und mir. Und da passierte etwas Gutes: Er entschuldigte sich bei mir.

 

Das hätte dieser Meister damals nicht machen müssen, denn ich war sowieso meistens der Übeltäter - das wusste er auch. Trotzdem tat er es. Das hat mich tief beeindruckt, gefreut und meine Beziehung zu Meistern, Schlossern, Werkstätten entscheidend geprägt - offensichtlich positiv. Danke, Meister L..

 

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Produktive Arbeit als Unterrichtsfach (Bild: 1958, MTS Zurow, Drehen lernen mit Werner Jenzen / www.https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-58812-0004,_Zentralschule_Zurow,_polytechnischer_Unterricht.jpg)
Produktive Arbeit als Unterrichtsfach (Bild: 1958, MTS Zurow, Drehen lernen mit Werner Jenzen / www.https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-58812-0004,_Zentralschule_Zurow,_polytechnischer_Unterricht.jpg)