Neid – Philosophie: Zur Rehabilitierung von Neidgefühlen

Neidisch will niemand sein und trotzdem sind wir es alle immer wieder im Leben. Entgegen dem Alltagsverständnis kann Neid eine funktionelle Rolle spielen: als sozialer Orientierungssinn, der uns die Spielregeln, Werte und Strukturen der Gemeinschaft verdeutlicht. Allerdings sind Neidgefühle in unserer Gesellschaft tabu.

Ist Neid ein Grundgefühl des Menschen?

Neid – Neidgefühle in der Philosophie

Ob Neid zu den universellen menschlichen Emotionen gehört, also den Grundgefühlen, die über alle Kulturen hinweg bestehen, ist umstritten. In der modernen Wissenschaft wird das Konzept der Basisemotionen ohnehin angezweifelt.

Viele vermuten, dass Neid v.a. in westlichen Gesellschaften aufblüht, welche von Konkurrenzdenken und Leistungseffizienz geprägt sind.

Das ist aber ein Trugschluss: Das Thema Neid findet sich in einer großen Zahl literarischer Quellen – und das über alle Jahrhunderte hinweg. Das spricht dafür, dass es sich beim Neid um ein universales Gefühl handelt.

 

Neid ist ein soziales Phänomen

Im Unterschied zu den sogenannten Primär-Emotionen (wie beispielsweise Ekel oder Angst, die als direkte Reaktionen auf einen Reiz auftreten) beruht Neid auf komplexen Gefühls- und Denkprozessen, darunter Überzeugungen, Vergleichen und Bewertungen.

*Übrigens sind Neid und Eifersucht verwandte Gefühle, zum Beispiel ist für beide eine aggressive Komponente typisch. Umgangssprachlich wird oft von Eifersucht gesprochen, wenn eigentlich Neid gemeint ist. Allerdings besteht Eifersucht definitionsgemäß nur in einer 3-Personen-Konstellation.

Vielleicht haben Neidgefühle deshalb auch so einen besonders negativen Status, schließlich zählen sie zu den 7 Todsünden (seit dem 5. Jahrhundert) im Christentum. Betrachten wir den Neid etwas neutraler, dann ist er immer nur in Bezug auf andere Menschen möglich und enthält einen Moment der Selbstreflexivität: Im Neid erkennen wir, dass wir im Vergleich zum Beneideten in einer benachteiligten Position sind, wenn es um das begehrte Gut geht.

Interessant ist, dass hier ein Gerechtigkeitsempfinden mitschwingt: Besonders intensiv wird Neid nämlich dann empfunden, wenn es scheint, der andere hätte die beneideten Güter oder Erfolge nicht verdient.

 

Zentrale Faktoren des Neides

  1. Neid setzt einen Selbstvergleich mit anderen voraus.

  2. Wir vergleichen uns mit (Referenzgruppe):

    • Menschen, die wir als ähnlich zu uns sehen (objektiv oder subjektiv)

    • Personen, zu denen wir in enger Beziehung stehen (z. B. Nachbarschaftsneid)

    • Leuten, die relevant für unsere Selbstbewertung sind.

  3. Der Neider wünscht sich die gleichen Privilegien wie der Beneidete.

  4. Der Selbstwert ist betroffen.

  5. Neid entsteht aus dem Gefühl der Benachteiligung gegenüber anderen.

 

Neid ist ein Gefühlskomplex

Aus dieser Konstellation entstehen vielschichtige Gefühlen. Das alles umfasst der Begriff Neid:

  • Zum Beispiel Trauer und Frust darüber, dass jemand anderes etwas hat, was wir ebenfalls gerne hätten

  • Verzweiflung angesichts unserer schlechteren Position

  • ein Gefühl der Ohnmacht, wenn uns klar wird, dass wir die Situation nicht ändern können usw.

 

Die Leiblichkeit des Neides

Wie fühlt sich Neid an?

Charakteristisch für Neidgefühle sind Verstimmungen und Schmerz, weil ein anderer Vorteile hat, die man selbst nicht hat. Das ist leiblich spürbar.

Generell können sich Neidgefühle in einer ganzen Palette körperlicher Empfindungen äußern: ein Stechen in der Brust, ein Beißen in den Eingeweiden, ein Nagen am Herzen, zusammengepresste Zähne, verengte Augen, stockender Atem – ein Spannungsgefühl breitet sich aus, begleitet von einem beklemmenden Gefühl der Enge.

 

Grün oder gelb vor Neid sein

Die Bedeutung des Begriffes Neid ist weitgefächert: Das Spektrum reicht von Missgunst über Bewunderung bis Hass. Der Neid bezieht sich auf Güter oder Vorteile materieller, sozialer und geistiger Art, die eine andere Person besitzt. In der Literatur bzw. Kunst werden Menschen „vom Neid zerfressen“, wie ein Gift, das sich langsam in der Person ausbreitet und ihn schleichend zersetzt.

Sicher hat der Neid eine spezifische emotionale Qualität. Doch meinen viele Forscher, der Ausdruck „gelb vor Neid sein“ weise auf eine passive Form der Wut hin, die sich innerlich als Unmut, Missgunst und Selbstmitleid entlädt. Allerdings ist zu bedenken, dass Neid nach der alten Humoral-Pathologie (4-Säfte-Lehre) durch ein zu viel an gelber Galle und schwarzer Flüssigkeit im Körper entsteht. Dieses Bild bleibt im „gelben Neid“ bis in die heutige Zeit erhalten – ebenso wie die negative Konnotation als moralische Verwerflichkeit.

 

Neid in der Philosophie-Geschichte

Seltsam, aber wahr: Mit dem Neid haben sich viele namhafte Größen der Philosophiegeschichte beschäftigt. In der Rückschau nehmen die meisten dazu unterschiedliche Blickwinkel ein – abhängig von persönlichen Erfahrungen, Kultur, sozialer Status etc. So fokussieren sich einige Philosophen auf das einzelne Individuum und untersuchen Neid aus einer psychologischen-anthropologischen Sicht, während andere ihre Analyse um eine moralische und religiöse Dimension erweitern. Wieder andere setzen den Schwerpunkt auf gesellschaftlich-politischer Ebene.

  • Aristoteles unterschied zwischen Missgunst (pthonos) und legitimen Gerechtigkeitssinn (nemesis) bei Ungleichheiten.

  • Für Thomas von Aquin war Neid (invidia) irrational und eine Sünde.

  • Immanuel Kant beschrieb Neid als ein „Laster des Menschenhasses“.

  • Thomas Hobbes erkannte im Neid einen konstruktiven Aspekt zur Begründung einer Staatsmacht.

  • Søren Kierkegaard betrachtet den Neid als ein vereinendes Element der Gesellschaft, das jedoch negativ wirkt.

  • Friedrich Nietzsche fokussierte sich auf das Ressentiment als besonders schädliche Form des Neides, bei der Unglück auf Glückliche projiziert wird.

  • Nach John Rawls ist Neid meist auf Ungerechtigkeit zurückzuführen und ein Motor, um die Gesellschaft gerechter zu gestalten.

 

Die Ambivalenz des Neides

Der Neid der Götter war in der griechischen Antike ein allgemeiner Topos. Hier hat die Doppeldeutigkeit des Neides auch ihren Ursprung. Einmal erscheint Neid in Form von „eifersüchtigem Egoismus“, dann wieder als eine „besondere Form des göttlichen Rechtsgefühls und der göttlichen Strafgerechtigkeit gegenüber dem frevelhaften Verkennen menschlicher Glücks-Beschränktheit“. (7)

  • Der Neid der Götter ("phthonos") spielt in der griechischen Mythologie eine zentrale Rolle. Die Götter des Olymps duldeten das menschliche Streben nach Übermäßigkeit, Überheblichkeit oder zu großem Glück nicht. "Hybris" (Hochmut), das arrogante Verhalten von Sterblichen gegenüber den Göttern oder dem Schicksal, wurde rigoros bestraft. Nemesis war die Göttin, die sich speziell um die Bestrafung von Hybris und die Wiederherstellung des göttlichen Gleichgewichts kümmerte.

    Ein bekanntes Beispiel für den Neid der Götter ist die Geschichte von König Midas, der die Fähigkeit erlangte, alles, was er berührte, in Gold zu verwandeln und ihm letztendlich zum Fluch wurde. Eine andere berühmte Erzählung ist die des Ikarus, der mit seinen Wachsschwingen zu nah an die Sonne flog, was zum Schmelzen seiner Flügel und seinem tragischen Sturz ins Meer führte.

    Der Neid der Götter diente in der antiken griechischen Kultur als moralische Warnung vor Überheblichkeit und einem Streben, das die menschliche Natur übersteigt.

Entsprechend haben auch Sokrates, Platon und Aristoteles im Neid ein moralisches Problem des Individuums erkannt und gleichzeitig eine notwendige Art des Neides herausgearbeitet: den konstruktiven Neid als Gerechtigkeitssinn.

Letzteres geriet jedoch schnell in Vergessenheit. Im Laufe der Geschichte dominierten verschiedene einseitige Erklärungen über den Neid. Im Mittelalter wurde er noch mit einem schrägen, indirekten Blick dargestellt (vgl. Scheelsucht): Er sollte eine verborgene, gefährliche Begierde, ein verstecktes und unrechtes Verlangen verraten, das der Neider nicht offen zu zeigen wagte. Spätere Autoren sahen im Neid sogar eine körperliche Krankheit.

Heute wird Neid im Alltagsverständnis mit einem Mangel an Selbstkontrolle und Selbstständigkeit gleichgesetzt. Ein neidischer Mensch hat sozusagen seine Gefühle nicht im Griff und lebt fremdbestimmt – also das Negativbeispiel zum selbstbestimmten, all-kompetenten Individuum im Neoliberalismus.

 

Was ist Neid?

2 Arten von Neidgefühlen

In der Philosophie und Psychologie wird zwischen 2 Formen von Neid unterschieden:

  1. Konstruktiver Neid beschreibt das Bestreben einer Person, dieselben Dinge zu bekommen, die eine andere Person hat, ohne dass der Wunsch beinhaltet, der anderen Person diese Güter nicht zu gönnen.

  2. Destruktiver Neid oder Missgunst ist das Verlangen, dass jemand, auf den man neidisch ist, das Beneidete verliert oder einen Schaden erleidet.

 

Rehabilitierung des individuellen Neides

Die Differenzierung zwischen gutem und schlechtem Neid ist ziemlich pauschal – und künstlich. Auch intensive negative Emotionen haben ihre Daseinsberechtigung. Dabei ist Neid noch längst keine Missgunst (jemanden einen Schaden wünschen). Insbesondere in Krisenzeiten, wenn die Existenzgrundlagen erschüttert sind und das Gefühl eigener Ohnmacht wächst, kann Neid gegen andere aufkommen. Der Neid ist dann Antwort auf unerfüllte Sehnsüchte und das schmerzhafte Empfinden persönlichen Unglücks.

Neidisch zu sein auf andere, die scheinbar das Glück des Lebens genießen, oder auf diejenigen, die noch haben, worum man selbst verzweifelt kämpft oder was man verloren hat, ist allzu menschlich. Nicht mehr und nicht weniger.

So unangenehm Neid auch sein mag, er ist Teil menschlicher Emotionalität. Indem wir ihn als Bestandteil des menschlichen Gefühlsspektrums anerkennen, anstatt ihn zu verteufeln, können wir auch besser mit ihm umgehen.

Das bedeutet nicht, dass wir ihn zügellos ausleben sollten; vielmehr geht es darum, die zugrunde liegenden Gefühle anzuerkennen und zu verstehen, was sie uns über unsere Bedürfnisse und unser Selbstbild verraten.

Auf den Punkt: Neidisch sein, ist nicht moralisch verwerflich, nicht unnatürlich und nicht falsch. Es ist einfach nur menschlich.

 

Konstruktiver Neid und seine Bedeutung

Konstruktiv werden Neidgefühle dann gesehen, wenn sie eine offene Anerkennung der Vorteile, die eine beneidete Person genießt, darstellen, ohne direkte Feindseligkeit gegen diesen Menschen zu hegen.

Wenn jemand schwer krank ist, kann man zum Beispiel gesunde Menschen beneiden und gereizt reagieren, ohne diesen ihre Gesundheit zu missgönnen. Häufig sind wir auf Personen neidisch, die unverdient Vorteile genießen, d. h. jedoch nicht, dass unsere Verstimmung sich immer direkt auf diese Menschen bezieht, sondern auf die Situation selbst.

Wenn wir genau sind, sind Neidgefühle ein hohes Gut in unserer Leistungsgesellschaft: Sie werden dann aber als „Ehrgeiz“ im Leistungskontext angesiedelt. Hier steht die Motivation zur Verbesserung der eigenen Gegebenheiten im Vordergrund. Um selbst das Beneidete zu bekommen, ist der Elan groß, sich dafür verstärkt einzusetzen.

Kritiker betonen, dass es sich hier nicht um echten Neid handle, sondern einen Gefühlskomplex aus Frust, Bewunderung und Begehren. Gegenargument: Neid stellt auch in seiner “negativen Form” eine Kombination aus verschiedenen Gefühlen dar.

So what?

 

John Rawls Neid-Theorie

Einige gerechtigkeitstheoretische Ansätze sehen eine faire Verteilung von Gütern als Mittel zur Bekämpfung des Neides an. Entsprechend ist Neid kein moralisches Problem, sondern ein soziales.

Eine der bedeutendsten Verteilungstheorien prägte John Rawls 1971: Er schlug eine faire Streuung von Gütern vor, um den allgemeinen Neid in der Gesellschaft zu bewältigen. Nach ihm entsteht Neid bei unterprivilegierten Gruppen durch soziale Ungerechtigkeit.

Während Rousseau also glaubte, dass Neid soziale Ungleichheit vorantreibt, argumentierte Rawls, dass genau das Gegenteil der Fall sei, weil allgemeine Neidgefühle benachteiligte Menschen motivieren, sich für Verbesserungen einzusetzen.

 

Die moralische Rechtfertigung des Neides

In Anschluss an Rawls finden sich weitere Argumente in der Philosophie zur Rehabilitierung des Neides. So kann Neid für ein ethisches Leben erforderlich sein, insbesondere wenn:

    • man ihn in Bezug auf unverdienten Erfolg fühlt.

    • man ihn gegenüber Personen empfindet, die von Ungerechtigkeit profitieren.

 

In einem ethischen Kontext kann Neid daher folgende Funktionen erfüllen:

  1. macht auf Ungerechtigkeiten aufmerksam, sowohl persönlich als auch gesellschaftlich.

  2. fördert die Motivation, diese Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.

  3. hilft, den Bezug zu den Mitmenschen zu bewahren.

 

Fazit: Neid & Neidgefühle (Philosophie)

Neid ist unangenehm, aber nicht grundsätzlich schlecht, destruktiv oder unmoralisch. Im Gegenteil, er ist einfach nur menschlich. Wer seinen eigenen Neid überdenken kann, erfährt, was man sich wirklich wünscht. Das, worauf der Neid sich richtet, ist für die eigene Person und meistens auch für die Gesellschaft wertvoll. Neidgefühle zu erkennen, hilft, die eigene Situation besser zu verstehen und zu hinterfragen, z. B. warum man etwas begehrt, was man nicht besitzt.

Doch die starke Ablehnung von Neid in unserer Gesellschaft wirkt widersprüchlich angesichts der hohen Wertschätzung, die Leistung, Wettbewerb und Erfolg erfahren. Oft werden Menschen, die Neid empfinden, mit der Moral-Keule niedergeschlagen. Als Strohmann-Argument dient Neid in der Diskussion über Armut oder Ungleichheiten dazu, Kritiker zu diskreditieren (Neiddebatte).

Dabei zeigt sich von Aristoteles bis Rawls, dass Neid erstens ein natürliches Gefühl ist und einen Gerechtigkeitssinn bzw. ein Gerechtigkeitsstreben enthält, das völlig legitim und notwendig ist, um Ungerechtigkeit abzubauen.


Quellen:

1) Karl-Heinz Nusser (1984): «Neid», in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe Verlag. DOI: 10.24894/HWPh.2718
2) Metzler Lexikon der Philosophie: Neid
3) Maja Beckers, Greta Lührs: Serie: „Die Weisheit der Gefühle“ / Teil 2 / Neid und Scham
4) Demmerling, Landweer: Philosophie der Gefühle, 2007
5) Laetitia Gloning: Neid – Aspekte eines gefräßigen gelben Gefühls
6) Íngrid Vendrell Ferran: Philosophische Perspektiven auf Neid und Eifersucht. In: Hermann Kappelhoff u. a. (Hg.): Emotionen, Metzler 2019, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-05353-4_31
7) Ulrich Hoefer: Phthonos. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 3,2, Leipzig 1909, Sp. 2473–2475.

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hey, ich bin Tamara, studierte Germanistin, Philosophin (M. A.) & freie Journalistin. Hier blogge ich über meine Erfahrungen mit Depressionen & Angst sowie über Philosophie & soziale Ungleichheit.

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