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(70) Tiberius Gracchus

Konsolidierung des Machtbereiches

Zeitgleich zu den Kämpfen in Griechenland gelang es Rom, in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. auch endgültig Norditalien und damit die gesamte italienische Halbinsel zu erobern. Bereits vor dem Zweiten Punischen Krieg hatte es von 225 bis 222 v. Chr. einen Feldzug gegen die keltischen Stämme gegeben, der ab 218 v. Chr. zu den römischen Stadtgründungen von Placentia (Piacenza), Cremona und Mutina (Modena) als Vorposten führte. Nach der Niederlage Hannibals wurden im Keltenkrieg von 200 bis 190 v. Chr. die mit den Karthagern verbündeten Insubrer und Boier geschlagen. Bologna fiel 193 v. Chr. als letzte keltische Stadt Norditaliens in römische Hände. Die Boier zogen sich über die Alpen zurück und ließen sich in Böhmen nieder, dass ihnen seinen Namen verdankt (Boiohaeum). Weiter nach Norden ging es dann für Rom erst einmal nicht, die Alpen waren Schutz und Hindernis gleichermaßen. Man schaute noch kurz oben an der Adria um die Ecke, bis 156 v. Chr. wurden die Illyrer in Dalmatien unterworfen.

 

Spanien blieb zunächst ein Unruheherd. Die Kämpfe waren so verlustreich und grausam, dass sich Rekruten weigerten, in Spanien zu kämpfen. Erst 133 v. Chr. gelang es Publius Cornelius Scipio Africanus Aemilianus (185 bis 129 v. Chr.), trotz des Namens nur qua Adoption ein Enkel des Siegers von Zama, nach langer Belagerung - wir kommen gleich noch einmal darauf zurück - die Hauptstadt der keltischen Iberer, die Bergfestung Numantia, nördlich der Ortschaft Soria in Nordspanien gelegen, einzunehmen. Damit war der Widerstand endgültig gebrochen. Es folgte die Kolonisation Spaniens mit italischen Siedlern und der Ausbau der Landverbindung zur iberischen Halbinsel. Lediglich der Nordwesten der Halbinsel konnte sich noch gegen Rom behaupten. Im Zuge dieser Entwicklung wurde Südfrankreich zur Provinz Narbonensis mit Aqua Sextiae, heute Aix-en-Provence, als Hauptstadt. Auch die Balearen kamen in dieser Zeit unter römische Herrschaft.

 

Wir sehen also in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ein das gesamte Mittelmeer beherrschendes und sich zunehmend konsolidierendes Römisches Reich. Dass es bis dahin kein einfacher Weg war, sondern dass er mit vielen Anstrengungen und Niederlagen gepflastert war, haben wir auch gesehen.  Vor allem war es kein geplanter, einer durchdachten Strategie folgender Weg. Alle Eroberungen - vielleicht von den ersten in Italien selbst abgesehen - geschahen eher als Reaktion auf erkannte oder vermutete Gefährdungen, also eher "situativ", wenn wir es etwas überzeichnen.

 

Eine gespaltene Gesellschaft?

Die Konzentration auf die Kriege und Eroberungen, die sich ja über mehr als hundert Jahre erstreckte, behinderte die organische Weiterentwicklung des Staatswesens nach innen. Wir hatten gesehen, dass es zwar schwierig, aber durchaus möglich war, dass sich neue, nicht zur alteingesessenen Aristokratie gehörenden Männer und Familien auf dem cursus honorum, der Karriereleiter hocharbeiten konnten. In Krisenzeiten war dies allerdings nahezu unmöglich, da man sich dann immer auf die scheinbar bewährten Kräfte und Strukturen besann.

 

Durch diese implizite Abschottung der Aristokratie kam es auch zunehmend zu Auswüchsen von Vetternwirtschaft und Ausbeutung. Mit dem Wegfall der äußeren Bedrohungen und der durch die Erfolge sanierten Finanzen stand dann nicht mehr das Staatsinteresse im Mittelpunkt, sondern es gab Platz für die Ausgestaltung des eigenen Ehrgeizes und des Strebens nach persönlicher Macht und Reichtum. Zudem führten die Kriege im Osten zu einem Effekt, den wir schon bei Alexander dem Großen erlebt haben. Orientalischer Luxus, orientalische Riten und religiöse Gebräuche faszinierten die Feldherren und sickerten so auch nach Rom ein. Reichtum konnte auf diese Weise sehr direkt und ungeschminkt zur Schau gestellt werden.

 

Natürlich gab es die Vertreter der alten Sitten, die bereits 218 v. Chr. – Hannibal setzte gerade zur Alpenüberquerung an – ein Gesetz durchbrachten, dass den Patriziern Handels- und Geldgeschäfte verbot. Wir müssen nicht lange überlegen, um überzeugt zu sein, dass es hier natürlich auch Schlupflöcher beispielsweise über Strohmänner gegeben haben dürfte. In Folge dieser Gesetze konzentrierten sich die Patrizier aber doch quasi "regelkonform" auf den Landerwerb. Den Handel und das eigentliche Wirtschaftsleben übernahmen die Ritter, also nicht der alte Senatsadel, sondern eher wohlhabende Bürger, die bisher schon finanziell in der Lage gewesen waren, sich für den Heeresdienst als Reiter auszustatten. Dies waren Menschen, denen die römische Verfassung und das Wohlergehen und die Weiterentwicklung des Staatswesens deutlich weniger wichtig waren, als das eigene Fortkommen. Im Grunde hat das Gesetz damit letztlich eher einen Zustand befördert, den es eigentlich zurückdrängen wollte. Das Gegenteil von "gut" ist "gut gemeint". Das galt schon immer.

 

Ager publicus oder: Wie bezahle ich Soldaten?

Die vielen Kriege hatten mit dem damit verbundenen Landgewinn eine weitere Folge, die sich in dem geschilderten Kontext, verschärfend für die innenpolitische Situation auswirkte. Wir haben beispielsweise gelernt, dass auch große Teile Spaniens römisch kolonisiert wurden. Über das, was in Italien in Folge der Eroberungen dort geschah, ist man sich nicht ganz sicher. Das eroberte Land wurde zunächst als öffentlicher Acker (ager publicus) dem Staatsbesitz zugeschlagen. Daraus wurden die Legionäre, die aus dem Dienst ausschieden, entschädigt. Gegen eine geringe Pacht wurden ihnen Parzellen von bis zu zwei Hektar zugeschlagen. Auch konnte jeder römische Bürger Flächen des ager publicus pachten. 177 v. Chr. wurde diese Form der Landverteilung eingestellt, allerdings nicht, weil kein Land mehr verfügbar war. Vielleicht gab es zu wenig Bewerber, da die zugeteilten Flächen relativ klein waren und in Teilen ja auch relativ weit entfernt lagen. Vielleicht hatte es auch politische Hintergründe, da der Verteilungsmechanismus wohl so organisiert war, dass diejenigen, die eine Zuteilung erhielten, dem Organisator des Verfahrens zu Dank verpflichtet waren, dass sie berücksichtigt wurden. So wuchs mit der Zeit ein Klientelwesen, das für die innenpolitischen Machtkämpfe durchaus von Bedeutung war. Ämter wurden ja durch Volksabstimmungen besetzt. Vielleicht sollte dieser Form der Beeinflussung der Plebejer ein Ende gesetzt werden.

 

Zu beobachten waren drei Entwicklungen. (1) Viele Höfe wurden aufgegeben, die Menschen zogen in die Stadt. Ob dies eine Folge der häufigen Kriege war, die es den Bauern unmöglich machte, ihr Land nachhaltig zu bewirtschaften, oder ob es reine Landflucht ob der Kleinteiligkeit der Parzellen in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt war, ist strittig. (2) Auf jeden Fall geriet - auch verstärkt durch das Gesetz von 218 v. Chr. - immer mehr Land in die Hände der reichen Großgrundbesitzer. Diese konnten dann die größeren Flächen mit modernen Methoden und Werkzeugen viel effizienter und damit ertragsbringender bewirtschaften. Begrenzungen hinsichtlich der Größe, die ein Einzelner vom ager publicus insgesamt erwerben durfte, existierten zwar, standen aber nur auf dem Papier. (3) Neben der Landflucht und dem zunehmenden Reichtum der Oberschicht gab es auch nach den Kriegen im Osten und Westen immer weniger Feldzüge, aus deren unmittelbarer Beute die Legionäre befriedigt werden konnten. Auf die Unlust, in das arme Spanien zu ziehen, haben wir schon hingewiesen. Zusammengenommen sehen wir also eine stetig wachsende Zahl armer, unzufriedener Menschen, die in der Stadt Rom lebten und einen Senat, den deren Schicksal wenig kümmerte.

 

Tiberius Gracchus hat Schwierigkeiten…

Das änderte sich mit Tiberius Sempronius Gracchus (162 bis 133 v. Chr.). Er war eigentlich einer von »denen da oben«, setzte sich aber sehr für die Rechte des Volkes ein. Auf die Gründe kommen wir gleich zu sprechen.

Sein Opa mütterlicherseits war Publius Cornelius Scipio Africanus, der Sieger von Zama. Tiberius‘ Karriere verlief suboptimal. Zwar konnte er sich zunächst im Dritten Punischen Krieg durchaus auszeichnen. Als Quästor in Spanien hatte er dann aber weniger Glück. 137 v. Chr. scheiterte das römische Heer unter dem Konsul Gaius Hostilius Mancinus (geb. 179 v. Chr., amt. 137 v. Chr.) an der Eroberung der keltischen Hauptstadt Numantia, die Scipio ja erst vier Jahre später erobern konnte. Tiberius Gracchus sollte den Waffenstillstandsvertrag aushandeln. Er erreichte immerhin den freien Abzug der römischen Armee. Die Legionäre waren ihm dankbar, der römische Senat und auch ein großer Teil des Volkes allerdings nicht. Aus der Entfernung und in der Sicherheit der Stadt Rom beurteilte man vieles deutlich rigider. Ein Rückzug vor Rebellen sei nicht hinnehmbar, lautete das Urteil. Der Vertrag mit den Kelten wurde nicht anerkannt. Seine hohe Herkunft bewahrte Tiberius Gracchus davor, ausgeliefert zu werden – als Kompensation, dass Rom den von ihm ausgehandelten Vertrag nicht ratifizierte. Statt seiner erwischte es den Heerführer. Mancinus wurde nackt und gefesselt zu den Numantiern geschickt, die ihn aber nicht aufnehmen wollten, da sie dann ihrerseits den Vertrag für ungültig erklärt hätten. Mancinus kam also frei, war aber politisch tot, wurde auch aus dem Senat ausgeschlossen.

 

…und will Reformen

Tiberius Gracchus hatte überlebt, aber sicher war sein Image arg angekratzt. Er suchte einen Befreiungsschlag, um sich wieder zu rehabilitieren. Bereits 140 v. Chr. hatte der Konsul Gaius Laelius (vor 182 bis nach 129 v. Chr., amt. 140 v. Chr.), den Antrag auf ein Ackergesetz eingebracht, das Kleinbauern in ihren Rechten gegenüber Großgrundbesitzern stärken sollte. Dieses Thema wurde zum zentralen Anker für Tiberius Gracchus‘ Bemühungen. Er schloss sich einem Kreis von Reformern an, die Geschichtsschreiber sind uneinig, ob er hier bald Treiber war oder taktischer Mitläufer blieb. Ziel der Reformer war eine Neuverteilung des ager publicus. Dies musste natürlich zu Lasten der reichen Großgrundbesitzer gehen, von denen viele auch im Senat saßen. Eine eigentlich schon bestehende Regel, die den Höchstbesitz auf 500 Iugera, das sind etwa 125 Hektar, beschränkte, sollte wieder gelten, für jedes Kind würden weitere 150 Iugera hinzukommen. Existierender Besitz, der diese Grenzen überschritt, müsste zurückgegeben werden, Pachtzahlungen würden entfallen. Durch diese Regelungen sollten die übervölkerten Armenviertel Roms entlastet werden. Den Menschen sollte eine Perspektive auf dem Land gegeben werden, die ihnen ein eigenverantwortliches selbstbestimmtes Leben ermöglichte. Ein weiteres Argument war, auf diese Weise die Verteidigungsfähigkeit des Staates zu erhalten. Zum Militär konnte nur eingezogen werden, wer in der Lage war, für seine eigene Ausrüstung zu sorgen. Damit fiel die Vielzahl der Besitzlosen aus. Nach dem Dritten Punischen Krieg war die Zahl der römischen Bürger von 337.000 auf 318.000 gesunken. Grund zur Sorge allemal. Anhand dieser Zahl erkennen wir auch, wie gering die Zahl der Menschen war, die sich mit großem Erfolg auf dem Weg zur Weltmacht befanden. Bielefeld, so es denn existiert, würde eher nicht auf solch eine Idee kommen.

 

Ungewöhnliche Methoden

Der Antritt von Tiberius Gracchus und seinen Kollegen schien erst einmal Erfolg zu zeitigen. 133 v. Chr. konnten einige von ihnen in wichtige Ämter gelangen. Tiberius wurde Volkstribun, sein Mitstreiter Publius Mucius Scaevola (180 bis 115 v. Chr., amt. 133 v. Chr.) sogar Konsul. Da man voraussah, im von Großgrundbesitzern dominierten Senat keine Mehrheit zu bekommen, ging man den ungewöhnlichen Weg, das Gesetz direkt vor die Volksversammlung zu bringen. Das war grundsätzlich möglich, widersprach aber allen Gepflogenheiten und jeglichem politischen Pragmatismus.

 

Es kam, wie es kommen musste, die Gegner der Reform schliefen ja auch nicht. Die Volksversammlung stimmte dem vom Volkstribun Tiberius Gracchus eingebrachten Gesetz zwar zu, ein anderer der zehn Volkstribune, Marcus Octavius (amt. 133 v. Chr.), verhinderte die Verabschiedung jedoch mit seinem Veto. Dies durfte bei der starken Front der Gegner nicht überraschen. Wir müssen es offenlassen, ob Octavius sein Veto aus Überzeugung oder erst nach einigen intensiven Gesprächen mit freundlichen Senatoren gab. Auf jeden Fall gab er es und er hatte das Recht der Verfassung auf seiner Seite.

 

Für Tiberius war das natürlich eine Katastrophe. Er brauchte den Erfolg, um wieder auf die Füße zu kommen. Also nutzte er wiederum die Volksversammlung, um seinen Kollegen als Volkstribun abwählen zu lassen. Ein Volkstribun, der die Entscheidungen des Volkes nicht mitträgt, dürfe keiner mehr sein, so seine erst einmal schlüssige Argumentation. Leider war sie von der Verfassung, die ja die Unabhängigkeit der Amtsträger garantierte, nicht gedeckt.

 

Durch diesen Coup war das Gesetz aber erst einmal in Kraft. Die Umsetzung sollte einer dreiköpfigen Kommission anvertraut werden, in der neben Tiberius Gracchus auch sein Bruder Gaius (153 bis 121 v. Chr.) und sein Schwiegervater, der sehr reiche Appius Claudius Pulcher (amt. 143 v. Chr.) saßen. Ein wahrlich traulicher Kreis. Dass auch ein so reicher Mann wie Pulcher hinter dem Ackergesetz stand, zeigt auch, dass es dabei nicht nur um mehr Rechte und Besitz für die Armen ging, sondern auch, vielleicht sogar vornehmlich, um die Schwächung von konkurrierenden Großgrundbesitzern. Der Senat versuchte, das Vorgehen noch zu torpedieren, indem er diesem Gremium jegliche Mittel verweigerte. Tiberius konterte diesen Versuch erneut mit einem Plebiszit, welches das dem Römischen Reich vermachte Vermögen des Herrschers von Pergamon, Attalos III., für die Umsetzung des Ackergesetzes freigab. Auch dies ein klarer Bruch der Verfassung.

 

Mit Stuhlbeinen erschlagen

Wir können es nun kurz machen. Es ging nicht gut aus für Tiberius. Er machte mit dem nächsten Verfassungsverstoß weiter, indem er für das Folgejahr wiederum als Volkstribun kandidierte, auch um seine Immunität zu erhalten. Jetzt war ihm wieder wichtig, dass Volkstribune sakrosankt waren. Bei seinem Kollegen Octavius war das ja aber auch eine ganz andere Geschichte gewesen… Normalerweise sollte zwischen zwei Amtsperioden immer ein Jahr Pause sein. Seine Gegner instrumentalisierten diese Kandidatur und forderten seine Inhaftierung. Publius Cornelius Scipio Nasica Serapio (182/181 bis 132 v. Chr., amt. 138 v. Chr.), ein Cousin des Tiberius, führte diese Partei an.

 

Die Sache schaukelte sich so hoch, dass Scipio Nasica mit seinen Anhängern eine Volksversammlung stürmte – eher spontan, wenn wir die Geschichte glauben, dass sie sich mit Stuhlbeinen bewaffnet haben sollen. Es waren im Zweifel schwere Stühle, denn Tiberius wurde dabei schließlich zusammen mit 300 seiner Anhänger erschlagen. Auch für Scipio Nasica nahm diese Sache kein gutes Ende. Da der Senat befürchtete, dass er Opfer des Volkszorns würde, schickte man ihn nach Kleinasien, wo er im folgenden Jahr in Pergamon starb.

 

Die von Tiberius Gracchus eingerichtete Ackerkommission wurde überraschenderweise nicht aufgelöst, allerdings umbesetzt und konnte in der folgenden Zeit durchaus im Sinne des Erfinders arbeiten. Sicherlich geschah dies langsamer und weniger umfangreich, als sich Tiberius Gracchus das vorgestellt hatte. Immerhin wurden auf diese Weise in den nächsten Jahren etwa 72.000 neue Bauernstellen geschaffen. Mit der Zeit verlor die Kommission aber an Einfluss. Ihre Kraft, Widerstände der bisherigen Besitzer zu überwinden, schwand. 111 v. Chr. wurde sie aufgelöst. Ein vollkommenes Scheitern, so wie es heute in manchem Lehrbuch bewertet wird, würde ich das nicht nennen, ein durchschlagender Erfolg war es allerdings auch nicht.

 

Die Geschichte der Gracchen ist aber noch nicht vorbei, das nächste Mal erleben wir Tiberius' Bruder Gaius. Mal sehen, ob es ihm besser erging.