Durkheim Funktion von Ritualen
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Kulturwissenschaft,  Soziologie

Funktion von Ritualen – Émile Durkheim

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Lesedauer 7 Minuten

Émile Durkheim: Die soziale Funktion von Ritualen

Rituale sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Die meiste Zeit, dieser langen Geschichte, stand das Ritual im Kontext des Religiösen und Kultischen. Trotz der ungeheuren Vielfalt bekannter historischer und zeitgenössischer Riten in den unterschiedlichsten Kulturen, sticht vor allem eine universelle Eigenschaft heraus: Rituale sind eine soziale menschliche Praxis. Der französische Soziologe Émile Durkheim (1858-1917) vertrat gar die Auffassung, dass die Funktion von Religion und Ritualen überhaupt und vor allem sozial bedingt ist. Für Durkheim sind Religionen in erster Linie gesellschaftliche Phänomene, die dazu dienen, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten und zu stärken, indem sie ein gemeinsames Glaubens- und Wertesystem schaffen. Rituale spielen dabei eine zentrale Rolle.

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Emile Durkheim: Grundlagen und Methodik

Der französische Soziologe Émile Durkheim (1858-1917) prägte mit „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ die Sichtweise auf Religion in der Soziologie tiefgreifend. Er erweiterte das Verständnis von Religion, indem er deren Funktionen in der Gesellschaft untersuchte und aufzeigte, dass religiöse Bedeutungen über herkömmliche Götter- und Geisterkonzepte hinausgehen. Durkheim betonte, dass Religion unabhängig von göttlichen Vorstellungen und in einem breiteren Kontext zu sehen ist, wobei die eigentliche Bedeutung religiöser Praktiken in ihrer unsichtbaren Wirkung auf das Bewusstsein und die Geistige Sphäre liegt (Durkheim 2007, S. 60, 528).

Diese Erkenntnis bildet den theoretischen Unterbau für Durkheims weitergehende Untersuchung der sozialen Funktion von Ritualen und deren Bedeutung für die Gemeinschaft.

Durkheim erforschte den Totemismus in australischen Klan- und Stammesgesellschaften (Durkheim 2007, S. 141) als „elementare“ Formen des Religiösen, um universelle Muster sozialer Konstitution und Kohäsion zu identifizieren. Er betrachtete diese Gemeinschaften, beeinflusst von sozialevolutionären Ideen, als frühe Stadien moderner Gesellschaften und suchte nach grundlegenden sozialen Formen, die auch in der modernen Welt relevant sind. Durkheims Ziel war es zu zeigen, wie rituelle Praktiken soziale Bindungen über verschiedene Kulturen und Zeiten hinweg stärken (Volbers 2014, S. 65).

Durkheims Ansatz ist funktionalistisch, bei dem Rituale nicht danach beurteilt werden, ob sie vernünftig oder unvernünftig sind. Vielmehr interessiert er sich für die eigentliche Funktion von Ritualen innerhalb der Gesamtgesellschaft (Volbers 2014, S. 61). Durkheim selbst führte jedoch keine Feldforschung in diesen Kulturen durch. Stattdessen nutzte er die gegen Ende des 19. Jahrhunderts schnell wachsende Menge an wissenschaftlichen Berichten über diese Kulturen, die überwiegend von angelsächsischen Ethnographen, im Rahmen, der sich entwickelnden Kultur- und Sozialanthropologie verfasst wurden (Knoblauch 1999, S. 59).

Funktion von Ritualen: Durkheims Theorie der „Vergemeinschaftung“

Durkheim stellt die These auf, dass Rituale eine fundamentale Rolle in der Konstitution und Aufrechterhaltung der Gesellschaft spielen. Er versteht religiöse Symbole als Repräsentationen der Gesellschaft selbst. Indem er argumentiert, dass das Individuum seine wesentlichen menschlichen Eigenschaften – wie Sprache, Moral und Kultur – aus der Gesellschaft bezieht, weist er darauf hin, dass die Gesellschaft sich durch die kollektive Teilnahme ihrer Mitglieder manifestiert und aufrechterhält. Gleichzeitig hängt die Existenz der Gesellschaft von der aktiven Beteiligung und dem Bewusstsein der Individuen ab. In diesem Sinne sind Individuen und Gesellschaft wechselseitig voneinander abhängig und definieren sich gegenseitig durch rituelle Praktiken (Durkheim 2007, S. 509).

Für Durkheim sind die Grundlagen und die dauerhafte Bedeutung von Kulten und Ritualen in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Er argumentiert, dass Rituale, die auf den ersten Blick vielleicht unbedeutend oder irrational erscheinen, tatsächlich aber das soziale Leben stimulieren, indem sie Menschen zusammenbringen und soziale Interaktionen fördern. Diese Rituale lenken die Aufmerksamkeit von den alltäglichen, individuellen und materiellen Belangen weg und konzentrieren sie stattdessen auf kollektive und moralische Aspekte des Lebens. Durkheim betrachtet diese Rituale als eine Möglichkeit, das soziale Bewusstsein und die Moral der Gemeinschaft zu erneuern und zu stärken. Er identifiziert die Gesellschaft selbst als das „moralische Wesen“, das durch diese kollektiven Praktiken revitalisiert wird. Rituale sind somit nicht nur symbolische Handlungen, sondern haben eine wesentliche Funktion in der Erhaltung und Stärkung der sozialen Kohäsion und des kollektiven Bewusstseins (Durkheim 2007, S. 510-511).

Das Heilige und das Profane

Ein Schlüsselkonzept in Durkheims Theorie ist die Unterscheidung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“, die die Struktur religiöser Überzeugungen und Praktiken grundlegend prägt. Das Profane bezieht sich dabei auf das alltägliche, weltliche Leben (Durkheim 2007, S. 324), während heilige Dinge – die weit über Gottheiten und Geister hinausgehen – natürliche Objekte, spezifische Wörter sowie menschliche Praktiken und Riten umfassen können und je nach religiösem System variieren (Durkheim, 2007, S. 62).

Durkheim identifiziert damit zwei deutlich voneinander getrennte Kategorien von Wirklichkeiten: einerseits die Welt des Profanen, andererseits die des Sakralen. Jede dieser Realitäten korrespondiert mit spezifischen Lebensformen, wodurch eine klare Abgrenzung zwischen dem Alltäglichen und dem Heiligen entsteht (Durkheim 2007, S. 316). Durkheim stellt dabei einen deutlichen Unterschied zwischen diesen zwei Phasen des gesellschaftlichen Lebens fest. In der ersten Phase dominiert die alltägliche, ökonomische Tätigkeit, die eher eintönig ist. Während der zweiten Phase, gekennzeichnet durch Feste und Zusammenkünfte, erlebt die Gemeinschaft eine lebhafte, emotionale Aktivität (Durkheim 2007, S. 319-320).

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Funktion von Ritualen: „Kollektive Efferveszenz“

Für den Vollzug des Rituals ist es damit kennzeichnend, dass es vor allem kollektiv erfahren wird. Bereits das Zusammenkommen von Individuen wirkt wie ein kraftvolles Stimulans, das eine Art kollektiver Energie freisetzt und sie schnell in einen Zustand intensiver Erregung versetzt. Diese gemeinsame Erregung verstärkt sich, da jedes Gefühl ein Echo im Bewusstsein der anderen findet, wodurch die emotionale Intensität wie eine Lawine zunimmt. Die daraus resultierenden heftigen Gesten, Schreie und Ausdrucksformen tragen weiter zur Verstärkung dieser Stimmung bei. Obwohl eine gewisse Ordnung notwendig ist, um diese kollektiven Gefühle auszudrücken, bleibt die ursprüngliche Intensität auch in strukturierteren Formen wie Gesängen und Tänzen erhalten. Instrumente wie Bumerangs und Schwirrhölzer, die in religiösen Zeremonien verwendet werden, dienen nicht nur der Verdeutlichung, sondern auch der Verstärkung der emotionalen Erregung (Durkheim 2007, S. 320-321).

Diesen Zustand der emotionalen Aufwallungen, Trance- und Rauschzustände fasst Durkheim unter dem Begriff der „kollektiven Efferveszenz“ zusammen – ein Begriff, der aus der Chemie stammt und heftige Gärungen und Aufwallungen aufgrund einer chemischen Reaktion bezeichnet (Volbers 2014, S. 66).

In Situationen kollektiver Efferveszenz, erreichen die entfesselten Leidenschaften eine solche Intensität, dass sie außergewöhnliche und manchmal extreme Handlungen auslösen, welche die üblichen sozialen und moralischen Grenzen überschreiten und die Beteiligten über die Normen des alltäglichen Lebens erheben (Durkheim 2007, S. 321).

Durkheims Theorie verweist darauf, dass diese intensiven gemeinschaftlichen Erfahrungen eng mit dem Heiligen verknüpft und diesem Bereich zugeordnet werden. Diese Erfahrungen, die ausschließlich innerhalb von Ritualen wiederholt werden, führen zu dem fundamentalen Eindruck innerhalb der Religion, dass es zwei unterschiedliche Welten gibt – eine des alltäglichen Lebens und eine des religiösen Rituals. Das Ritual selbst manifestiert und schafft die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Alltäglichen und dem Außeralltäglichen, zwischen dem Profanen und dem Heiligen. Es kennzeichnet und erlebt sowohl die Realität als auch die außerordentliche Natur des Heiligen, seine Trennung vom Alltag. So stellt das Ritual eine Praxis dar, die genau das hervorbringt, auf das es sich bezieht – die Erfahrung des Außeralltäglichen, des Sakralen (Volbers 2014, S. 66).

Durkheims Konzept der kollektiven Efferveszenz betont, wie Rituale nicht nur die Grenze zwischen dem Profanen und dem Heiligen definieren, sondern auch eine tiefgreifende Erfahrung für die Gemeinschaft darstellen. Diese intensiven Momente der Vergemeinschaftung offenbaren die Kraft des Kollektiven, indem sie außeralltägliche Zustände hervorrufen, die sowohl die sozialen Bindungen stärken als auch die Teilnehmenden über das alltägliche Leben erheben.

Somit schließt Durkheim, dass die dynamische Interaktion zwischen dem Individuum und dem Kollektiv durch rituelle Praktiken nicht nur die soziale Ordnung bewahrt, sondern auch das moralische und spirituelle Fundament der Gesellschaft erneuert.

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Rituale in der moderne Gesellschaft

Durkheim untersuchte Rituale in ihrem ursprünglichen, religiösen Kontext. Auch heute existiert noch eine Vielzahl an religiösen Riten. Vor allem aber in der westlichen, säkularen Welt, hat die Religion stark an Bedeutung eingebüßt. Selbst das Weihnachtsfest, als religiöses Fest, beinhaltet viele unterschiedliche Rituale, die jedoch in der heutigen Zeit, oft säkular ausgelegt und verstanden, dennoch aber erhalten geblieben sind.

Neben diesen ursprünglich religiösen Festen und Riten entstanden neue Formen von Ritualen, die sich eher an den Erfordernissen und Werten einer zunehmend säkularen, pluralistischen Gesellschaft orientieren. Diese reichen von staatlichen Zeremonien und nationalen Feiertagen bis hin zu kulturellen und familiären Traditionen die Gemeinschaft und Identität stiften. Auch Feste wie die Fastnacht, der Karneval oder etwa das Oktoberfest spiegeln Durkheims Konzepte der Vergemeinschaftung und kollektiven Efferveszenz auf eindrückliche Weise. Auch wenn die Sphäre dieser säkularen Rituale nicht als „heilig“ oder „sakral“ bezeichnet werden können, transzendieren sie dennoch das alltägliche, profane Leben der Menschen.    

Auch in der modernen Arbeitswelt beispielsweise finden wir Team-Meetings und Firmenfeiern, die als moderne Rituale fungieren und den Zusammenhalt sowie die Identifikation mit dem Unternehmen fördern. Selbst in der digitalen Welt, in sozialen Medien und Online-Communities, etablieren sich rituelle Praktiken, die zur Bildung virtueller Gemeinschaften beitragen. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Durkheims Beobachtungen über die soziale Funktion von Ritualen weit über den religiösen Kontext hinausreichen und tief in die soziale Struktur der modernen Gesellschaft eingewoben sind.

Die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen haben zudem die Bedeutung virtueller Rituale verstärkt und gleichzeitig das Bedürfnis nach realweltlichen rituellen Erfahrungen hervorgehoben. Online-Abschlussfeiern, virtuelle Gedenkstätten und Streaming-Gottesdienste sind nur einige Beispiele dafür, wie flexibel und anpassungsfähig rituelle Praktiken in Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen sein können.

Trotz des Rückgangs der traditionellen religiösen Praxis in vielen Teilen der Welt, zeigt Durkheims Theorie, dass der grundlegende menschliche Bedarf nach Zugehörigkeit und Sinnstiftung durch Rituale weiterhin besteht.

Durkheims Einsichten in die soziale Funktion von Ritualen bieten einen überaus wertvollen Rahmen für das Verständnis, wie moderne Gesellschaften Zusammenhalt und kollektive Identität fördern können, selbst in einer Zeit, in der traditionelle Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung einem stetigen Wandel unterliegen. Sie ermutigen uns, die Bedeutung und das Potenzial von Ritualen in unserem eigenen Leben und in der Gestaltung unserer sozialen Umwelten neu zu bewerten – sei es im Beruf, im Verein oder in der Familie.


Literaturverzeichnis:

Durkheim, É. (2007). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Berlin, (6. Aufl. 2023). Insel Verlag.

Knoblauch, H. (2012). Religionssoziologie (1999. Aufl.). de Gruyter.

Volbers, J. (2013). Performative Kultur: Eine Einführung (2014. Aufl.). Springer VS.


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Interne Links:

Liminalität: Victor Turner – die transformative Kraft von Ritualen

Externe Links:

YouTube: 10c Seven Classic Theories of Religion – Emile Durkheim, totemism

Spektrum: Metzler Philosophen-Lexikon: Émile Durkheim

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