Verräterisches Papier

Verräterisches Papier

Alles hat ein Ende, aber nicht alles hat auch einen Anfang

„Hände hoch!“

Gefühlt stand ich augenblicklich im Bett, aber vermutlich lag ich immer noch auf der linken Seite, die Bettdecke bis kurz unter die Ohren gezogen und machte diese kleinen Geräusche, die von meiner Familie immer als Schnarchen missdeutet werden. Aber wer kann schon darüber Auskunft geben, was mit ihm in der Welt geschieht, während er sich im Reich der Träume aufhält.

„Da bin ich wieder.“

Ja, das war ziemlich offensichtlich, widersprach aber allem, was ich bisher über Träume gewusst hatte. Sie sollten doch nicht wie Serien bei Netflix sein, oder?

„Hallo, etwas mehr Aufmerksamkeit bitte.“

Billy Jenkins ließ den Colt kreisen. Gun Spinning. Ich hatte mich schlau gemacht.

„Weißt du inzwischen mehr?“ Er stupste mich mit der Mündung seiner Waffe an und ich fragte mich, ob man wach wohl tot wäre, wenn man im Traum erschossen würde. Blöde Frage, denn dann wäre man ja nicht wach. Aber vielleicht doch tot.

Ja, ich wusste mehr. Billy war jetzt zum zweiten Mal in meine Nacht hineingeritten und hatte mich dringend aufgefordert, ihm bei der Rettung einer Familie in Dalton City zu helfen. Glenn OBrien hieß der Farmer, dessen Frau mit ihren acht Kindern von China Dick und seiner Bande auf der Hazienda des Grauens festgehalten wurde. Sengende Sonne und heulende Coyoten. Drei Männer der Special Police hatten die Bande gestellt, aber sie konnten nichts unternehmen, ohne die Familie zu gefährden. Soweit war alles klar. Und was hatte ich damit zu tun?

Billy druckste ein bisschen herum. Wir kannten uns, soviel musste ich gestehen. Aus den frühen sechziger Jahren. Vom Dachboden meiner Oma. Das mag komisch klingen, aber wenn Sie geschluckt haben, das Billy seriell in meinen Träumen auftaucht, um meine Hilfe einzufordern, dann ist das mit dem Dachboden doch wirklich keine Herausforderung mehr, oder?

Es ging um ein Buch. Bei Billy ging es immer um ein Buch oder nein, noch häufiger um ein Heft. Das war mir nicht bewusst, als ich ihn kennenlernte.  Von 1934 bis 1963 erschienen tatsächlich mehrere Hundert Hefte und Dutzende Bücher mit seinen Abenteuern.

China Dick wollte genau das: ein Billy-Jenkins-Buch. Also eigentlich hatte er es sogar, ihm fehlte nur die Schatzkarte und die genauen Anweisungen, wo der Schatz in den Bergen des Grauens versteckt worden war. Irgendwo auf den ersten 35 Seiten des Buchs musste das stehen und genau diese Seiten fehlten in der Ausgabe, die China Dick besaß. Es gab keine weitere in den Staaten, Billy war dort nie so eine große Nummer gewesen wie bei uns. Aber Billy hatte sich an mich erinnert, an unsere Bekanntschaft auf dem Dachboden im Bollinghauserweg in Leer-Heisfelde.

Damals war er mir nur zwischen zwei Pappdeckeln erschienen und hatte meine Phantasie gebraucht, um seine Abenteuer erleben zu können. Jetzt stand er mir gegenüber, etwas grob gezeichnet, mit dieser übertriebenen Dramatik der Westernromane, aber immer noch besser als im Schlafanzug  dazustehen. Wie ich. Helfen sollte ich, helfen wollte ich. Wer will das nicht, wenn eine so vielköpfige Familie in Gefahr ist? Auch wenn sie nur auf dem Papier in Gefahr ist. In meinem Traum auf dem Papier in Gefahr ist.

Ich erinnerte mich an Billy Jenkins. Ich erinnerte mich an das Buch. Also als Buch, nicht als Geschichte. Nicht mal an den Titel. Nur daran, dass die ersten Seiten fehlten. Zwanzig, dreißig Seiten vielleicht. Genau, sagte Billy, dass muss es sein, die fehlen China Dick auch.

Ich brauchte etwas, um ihm zu erklären, dass das Fehlen der Seiten nicht unbedingt bedeutet, dass es sich um die gleiche Geschichte handeln musste und das, falls das tatsächlich so sein sollte, China Dick mit einem Buch, in dem die gleichen Seiten fehlten, nicht wirklich geholfen wäre. „Also muss ich ihn doch erschießen?“, fragte Billy hoffnungsfroh, aber ich bat ihn, damit noch etwas zu warten. Mein Onkel Erwin war, wenn ich mich recht erinnerte, der Eigentümer des Buches gewesen.   

„Dann müssen wir zu ihm!“ stellte Billy fest. Ob ich ein Pferd brauche oder eine Waffe? Onkel Erwin war a) mein Onkel und b) weit über achtzig. Also ja. Pferd und Waffe.

„Gut. In der nächsten Nacht, es wird gleich schon wieder hell und wenn du so unruhig schläfst, fällst du mir noch vom Pferd.“

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich niemals so ruhig schlafen könnte, dass ich nicht vom Pferd fiele, aber ich widersprach Billy nicht. Er hatte einen eisernen Willen und zwei Pistolen.

In der folgenden Nacht machten wir uns auf den Weg zu Onkel Erwin. Er hatte am Telefon behauptet, sich an nichts erinnern zu können, aber das sagte er immer, wenn ich ihn anrief. Außerdem lebte er in einer Stadt, die stolz darauf war, als Eulenspiegelstadt bekannt zu sein.

Ich bat Billy, in der Seniorenresidenz nicht so oft auf den Boden zu spucken und möglichst auch nicht so stark zu sächseln, weil das zarte Gemüter immer noch an Karl May erinnern könnte. Oder Walter Ulbricht. Jedenfalls einen, der es mit den Roten hatte. Billy kapierte weder das einen noch das andere und spuckte erstmal aus. Demonstrativ.

Inzwischen hatte ich mich natürlich schlau gemacht. Ich war aus dem Alter heraus, in dem ich mich von Pistolen beeindrucken ließ. Jedenfalls tagsüber von geträumten Pistolen. Billy Jenkins hieß nämlich eigentlich Erich Rudolf Otto Rosenthal und war in Magdeburg geboren worden. Ein Sohn jüdischer Eltern, der früh ein großer Fan von Buffalo Bill wurde und ihm erfolgreich nacheiferte. Mit einer eigenen Westernshow und einer Bücherreihe, die von ihm inspiriert war. Natürlich nicht von jemandem, der Rosenthal hieß, nicht 1934. Aus Erich und so weiter Rosenthal wurde Erich Fischer, evangelisch und Parteimitglied.  Sogar Hitler und Goebbels zeigte er seine Kunststücke. Nur Bücher schrieb er nicht, dafür gab er nur seinen Namen her, kein Wunder also, dass Billy sich nicht erinnern konnte, wo der Schatz in den Bergen des Grauens versteckt worden war.

Onkel Erwin war nicht dement, aber tagsüber konnte Billy nicht und nachts war Onkel Erwin für Western völlig unempfänglich.  Mehr als der Hinweis auf den Dachboden war nicht drin, da konnte Billy auf den Boden spucken, wie er wollte. Und dann sagte Onkel Erwin doch noch etwas.

„Vielleicht bei Amazon.“

Billy war sofort hellhörig geworden.

„Okay, lass uns hin reiten.“

„Da kann man nicht hinreiten.“

„Zu gefährlich? Zu weit? Wir könnten die Abkürzung durch ein Buch nehmen.“ Billy war Feuer und Flamme. „Auf der einen Seite sind wir noch hier, auf  der nächsten schon am Ziel und was die beiden Orte trennt, ist nur ein Sternchen.“

„Ein Sheriffsternchen“, kalauerte ich, aber er lächelt nicht mal.

„Was willst du von Amazon?“

„Bücher“, zugegeben, ein sehr allgemeiner Vorschlag, aber ich setzte gleich hinzu: „‚Vielleicht sollten wir es über Männer im Goldrausch versuchen, die sind vermutlich ziemlich nah dran an Jeff Bezos.“

Billy begann demonstrativ seine Waffen zu polieren, ich schenkte mir also weitere Albernheiten, lenkte ihn ab und bestelle bei Amazon die Billy-Jenkins-Gesamtausgabe. Ein paar Hundert Hefte und eine ganze Reihe Bücher. Lieferung nach Dalton City. Tom Prox und Glenn OBrien würden sie abholen.

Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass China Dick die passende Passage in einem der Bücher finden und die Familie laufen lassen würde, dass die Special Police um Billy Jenkins und Tom Prox die Bande daraufhin überwältigen und ihrer gerechten Strafe zuführen und ich meinen Anteil an der ausgesetzten Belohnung bekommen würde. Schon um meine Amazon-Rechnung zu bezahlen. Die nächste Nacht sollte es zeigen.

Das „Hände hoch“ würde mir bestimmt nicht fehlen. Billy kam noch mal vorbei, um mir zu sagen, dass die Familie frei war und mir der Dank aller Jenkinsianer gewiss sei. Danach schlief ich wie ein… ein Murmeltier und das bezieht sich nicht auf die kleinen Laute, die ich manchmal nachts mache. Aber das ist hier nun auch wirklich nicht das Thema.  Jedenfalls schlief ich tief und fest, bis es an der Tür klingelt. Glenn OBrien und seine Familie. Ich ließ sie nicht rein. Wenn Sie mehr wissen wollen: Der neue Billy-Jenkins-Band: Ärger am Ems-River.

6 Gedanken zu “Verräterisches Papier

  1. Ein happy end. Schön, wenn sich ein traum so komplettiert. Tom Prox und Billy Jenkins waren die helden meiner kindheit. Ich hatte schon lange nicht mehr an sie gedacht. Dass du sie in deinen träumen agieren lässt, gefällt mir. Mich erfreut die umschreibung des schnarchens als geheimnisvolle geräusche, die von deiner familie so schmählich missdeutet werden. Übrigens habe ich nicht gewusst, dass Billy Jenkins eine reale figur war. Die romane mir ihren reißerischen covern gab es bei uns in der privaten leihbücherei.

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    • Das unvollständige Exemplar auf dem Dachboden meiner Oma war, wenn ich mich richtig erinnere, auch von einer Lehrbücherei aussortiert worden. Billy Jenkins bekommt durch die Geschichte des Namensgebers eine ganz andere Dimension. Die deutsche Geschichte erwischt einen selbst dann, wenn man über Trivialliteratur scherzen will.

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