Träumt sie oder trauert sie?

Träumt sie oder trauert sie?
Man weiß es nicht.
Stände die Skulptur von Ignaz Ingerl (ca. 1751 – 1801) auf einem Friedhof, dann wäre die Antwort klar. Aber sie steht im Rokoko-Garten des Schätzler Palais in Augsburg.
Links und rechts stehen weitere Skulpturen angeordnet, stark verwitterte Sandsteinfiguren von Johann Michael Haff. Der Zahn der Zeit hat diesen arg zugesetzt.
Aus diesem Ensemble sticht die Trauernde (oder ist es eigentlich die Träumende?) hervor. Im Netz finde ich sowohl den einen wie den anderen Namen der Plastik.
Von Bildhauer Ignaz Ingerl ist nicht viel in Erfahrung zu bringen, viele Denkmäler von ihm sind nicht erhalten geblieben. Aber er war, so viel ist bekannt, auch Gestalter von Grabdenkmälern, gut möglich, dass es also doch eine Trauernde ist. Es fällt nicht schwer, sich diese Figur auf einem Grab vorzustellen.
Andererseits: Einst stand die Plastik im Freundschaftstempel des Augsburger Bankiers Christian III. von Münch im Garten des Schlosses Aystetten. Der Tempel wurde 1965 abgerissen, die Skulptur umplatziert in den Rokokogarten. Also doch eher eine Träumende?

Vielleicht ist die Frage müßig, vielleicht ist es auch egal oder einfach nur akademisch, denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen es immer ganz genau wissen und der Sache auf den Grund gehen, bis keine Frage mehr offen bleibt.

Bei einem Ausflug, bei dem wir neben dem Dom und der Fuggerei auch das Schätzlerpalais samt seiner Gemäldesammlung, dem phantastischen Rokokosaal und den Rokokogarten besichtigen, bleibt mein Blick auf der Träumenden/Trauernden hängen. Die Skulptur ist dermaßen ikonisch, dass ich gar nicht anders kann, als sie ausgiebig zu betrachten und anschließend zu fotografieren. Vielleicht hänge ich in Gedanken noch den barocken Vanitas-Motiven nach, die ich weiter oben im Museum gesehen habe, dass ich sofort einen Brückenschlag mache: Die Symbolik der abgebrochenen Säule, auf die sich die Frau stützt, ist überdeutlich. Die Ruinen aus der Antike, die für Vergangenes und Vergängliches stehen. Dazu die Spuren der Verwitterung, die „Patina“ der Endlichkeit, die sich über sie gelegt hat, so, als sähe ich sie auf einem alten Friedhof stehen.

Aber richtet sie nicht den Blick zu weit nach oben in die Ferne, jedenfalls viel weiter als ähnliche Skulpturen oder Gemälde, auf denen die dargestellten Personen den abgestützen Kopf gesenkt haben?
Gedankenschwer, weltentrückt wirkt die Frau, allein mit sich.

Wie also?

Träumt sie oder trauert sie?
Wer kann das wissen?
Ich kann mich vor sie hinstellen und sie fragen:

Träumst Du? Von was, von wem?
Trauerst Du? Um was, um wen?

Sie wird nicht antworten – nicht mal in meiner Phantasie. Aber einen Moment nimmt sie mich gefangen, rührt mich, lässt mich innehalten, grübeln, sinnieren. Als Trauernde löst sie ein gewisses Mitgefühl, eine Empathie aus. Und als Träumende?

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