Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

8.04.2024, Heidelberger Institut für Theoretische Studien gGmbH
Mit Algorithmen: Die Evolution der Vögel besser verstehen
Im Jahr 2014 erschien im Fachjournal „Science“ ein Artikel über den Stammbaum der Vögel, in dem Algorithmen und Supercomputer eine wichtige Rolle für die evolutionsbiologische Forschung für alle Arten von Lebewesen zukam. Ein Jahrzehnt und einen gewaltigen Sprung in der Entwicklung von digitalen Werkzeugen später haben Forschende, die damals die Computeranalysen koordinierten, eine weitere Studie über die Komplexität der Evolution der Vögel mitverfasst, die jetzt in „Nature“ erschienen ist.
Phylogenetische Beziehungen sind der Schlüssel zum Verständnis der Evolution der Arten. In der Regel werden diese Verwandtschaftsbeziehungen durch den Vergleich von Ähnlichkeiten in der DNA oder anatomischen Merkmalen ermittelt. Ein internationales Forscherteam des „Bird 10,000 Genomes Project“ (B10K) hat nun die Genome von 363 Vogelarten mit Hilfe der Regionen zwischen ihren Genen und einer Fülle von Berechnungsmethoden analysiert. Das Ergebnis ist ein von der Datenbasis her gut gesicherter Stammbaum, der allerdings auch ein erstaunliches Maß an Unstimmigkeiten aufweist.
Für diese Ergebnisse sind große Datenmengen erforderlich, um Diskrepanzen zu beseitigen, die durch die Vielfalt der untersuchten Arten, die verwendete phylogenetische Methode und die Auswahl der Genomregionen verursacht werden können. Einige der wichtigsten Werkzeuge für die Verarbeitung dieser Daten wurden vom Team der Computational Molecular Evolution Gruppe (CME) am Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) entwickelt, gemeinsam mit Forschenden der Biodiversity Computing Group (BCG) am Institute of Computer Science (ICS) der Foundation for Research and Technology Hellas (FORTH), Heraklion, Griechenland, die beide unter der Leitung von Alexandros Stamatakis stehen.
Evolutionsbiologische Forschung ermöglichen
„Anhand der neuen Berechnungsmethoden konnten wir über 150,000 lokale Phylogenien über das gesamte Genom hinweg rekonstruieren, von denen jede ein kleines Fenster in die Evolutionsgeschichte der Vögel öffnet“, sagt Josefin Stiller (University of Kopenhagen, Dänemark), eine der Hauptautorinnen der Studie und ehemalige Besucherin der CME-Gruppe am HITS.
„Unsere Hauptaufgabe besteht darin, die Forschung in der Evolutionsbiologie durch Software, Algorithmen und Modellentwicklung zu ermöglichen“, sagt CME-Gruppenleiter Alexandros Stamatakis, der auch einen von der EU geförderten „ERA Chair“ bei FORTH innehat. „Die Software ParGenes zum Beispiel, die für den Artikel von zentraler Bedeutung ist, kann die Berechnung einer riesigen Anzahl phylogenetischer Bäume auf verschiedenen Eingabedatensätzen aus unterschiedlichen Genomregionen auf einem großen Computer-Cluster effizient planen. Dies ist klassische Grundlageninformatik, da sie sich auf die effiziente Planung von Aufgaben konzentriert.“
ParGenes basiert auf RAxML-NG, dem Flaggschiff-Software-Tool der CME-Gruppe zur phylogenetischen Analyse, und auf Modeltest-NG, einem Werkzeug zur Auswahl des am besten geeigneten statistischen Evolutionsmodells für einen bestimmten Datensatz. Das „NG“ in den beiden Namen steht für „Next Generation“ und bezeichnet eine Reihe bestehender Tools, hauptsächlich der eigenen, welche seit 2014 komplett überarbeitet und neu geschrieben wurden, um sie besser wartbar, vielseitiger und skalierbarer zu machen.
Besonders RAxML-NG ist sehr flexibel: Es kann nahtlos vom Laptop bis zum Supercomputer skalieren. Für die neue Studie wurde es als eigenständiges Tool verwendet, um einen Baum aus dem Datensatz mit den gesamten Genomen auf einem Supercomputer zu berechnen.
Vorhersagen mit “Pythia”: Maschinelles Lernen hilft bei der Stammbaum-Analyse
„Relativ spät wurde in die Studie noch die „Pythia“-Schwierigkeitsvorhersage eingearbeitet, die von Julia Haag, einer Doktorandin meiner Gruppe, entwickelt wurde. Anhand eines Eingabedatensatzes wird mit Techniken des maschinellen Lernens vorhergesagt, wie schwierig eine phylogenetische Schlussfolgerung aus diesem Datensatz sein wird, das heißt, wie viel Signal für einen einzelnen Baum in den Daten vorhanden ist, „, sagt Stamatakis. „Da sich unser „Nature“-Paper stark auf die Bewertung des phylogenetischen und evolutionären Signals in verschiedenen Genomregionen des Vogelgenoms konzentriert, war dies eine sehr nützliche Ergänzung der Studie, da wir jetzt auch phylogenetische Schwierigkeitsscores für unterschiedliche Genomregionen liefern können.“
Ein vielseitiges und flexibles Werkzeug für Forschende
Die Werkzeuge der CME-Gruppe, die in dieser Arbeit verwendet werden, sind alle Open Source und werden extrem häufig zitiert. Insbesondere das RAxML-NG-Tool ermöglicht regelmäßig Forschung in verschiedenen Disziplinen der Biowissenschaften. Während der Pandemie wurde RAxML-NG zum Beispiel verwendet, um zu analysieren, wie sich die verschiedenen Virusstämme entwickelt haben.
„Im Rahmen unserer Arbeit in Heidelberg und Heraklion stellen wir unseren Kollegen ein grundlegendes Instrumentarium zur Verfügung, das sie in die Lage versetzt, ihre Wissenschaft zu betreiben“, sagt Alexandros Stamatakis. „Ich persönlich empfinde das als sehr befriedigend.“
Originalpublikation:
Stiller J et al: Complexity of avian evolution revealed by family-level genomes. Nature (advance online publication), 1 April 2024, DOI: 10.1038/s41586-024-07323-1 https://www.nature.com/articles/s41586-024-07323-1

08.04.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Großprojekt gegen Wildtierkriminalität startet
Eine Koalition aus Naturschutzverbänden, Polizei, Ministerien und Wissenschaft unter Beteiligung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) verkünden den Start des Projekts „wildLIFEcrime“. Dieses grenzüberschreitende Projekt verfolgt das Ziel, bis zum Jahr 2028 die Wildtierkriminalität in Deutschland und Österreich zu reduzieren. Durch Verbesserungen in der Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Behörden soll die Effizienz bei der Bekämpfung illegaler Wildtierverfolgung erheblich verbessert werden. Bislang stehen einer hohen Zahl illegaler Tötungen streng geschützter Wildtiere nur wenige Verurteilungen gegenüber.
Tausende streng geschützte Wildtiere wurden in den letzten Jahren in Deutschland und Österreich vergiftet, erschlagen oder erschossen. Für viele streng geschützte oder seltene Tierarten ist die illegale Verfolgung eine der häufigsten Todesursachen und stellt ein massives Problem für den Artenschutz dar. Zudem werden nur wenige Täter:innen ermittelt und selbst wenn dies der Fall ist, kommt es in den seltensten Fällen zu Verurteilungen. Um diesen Trend zu stoppen, hat eine ungewöhnliche Koalition von Partnern aus Naturschutzverbänden, Behörden, Veterinärmedizin, Polizei und der Wissenschaft nun das länderübergreifende EU LIFE geförderte Projekt „wildLIFEcime“ gestartet. Ziel des bis 2028 laufenden Projekts ist es, durch eine erheblich verbesserte Zusammenarbeit die illegalen Tötungen von Wildtieren in Deutschland und Österreich zu reduzieren und die Effizienz bei der Strafverfolgung zu erhöhen. Das Projekt soll dafür als Informationsdrehscheibe zwischen den betroffenen Akteur:innen dienen. Verbesserungen in der forensisch-pathologischen Untersuchungskette, die Analyse rechtlicher Rahmenbedingungen anhand von Beispielsfällen sowie die Erstellung praxisorientierter Leitfäden und einer Falldatenbank sollen den ermittelnden Behörden bei der Bekämpfung von Wildtierkriminalität helfen. Das Projektteam setzt sich aus dem WWF Deutschland, WWF Österreich, BirdLife Österreich, Universität Bremen, Polizeipräsidium Niederbayern, Polizeipräsidium Oberpfalz, Bundeskriminalamt Österreich, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung, Veterinärmedizinische Universität Wien, ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung, Luchs Bayern e.V., das Komitee gegen den Vogelmord e.V. sowie dem Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr NRW zusammen.
Neben der Umsetzung von präventiven Maßnahmen, wie aktivem Konfliktmanagement in Hot-Spot-Gebieten, will das Projekt erreichen, dass Fälle entdeckt, effektiv bearbeitet, aufgeklärt und Täter:innen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür ist es wichtig, die Bevölkerung zu sensibilisieren und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Strafverfolgungsbehörden die nötige Unterstützung beim Zugang zu Fachwissen erhalten und ihre Kapazitäten erweitern können.
Deswegen arbeiten die Projektpartner an der Verbesserung forensischer Untersuchungen und bieten Fortbildungen für Polizei und Staatsanwaltschaften an. Außerdem wollen die Projektpartner Strukturen und Netzwerke etablieren, um den Informationsaustausch zu verbessern. Gleichzeitig planen sie, Vorschläge zu erarbeiten, um die rechtlichen Rahmenbedingungen im Austausch mit Entscheidungsträger:innen zu optimieren. Das Leibniz-IZW stellt dafür seine pathologisch-forensische Expertise in der Abteilung für Wildtierkrankheiten zur Verfügung und organisiert im Rahmen der Leibniz-IZW-Akademie forensische Fortbildungen für Fachleute. Dies wird die Qualität forensischer Untersuchungen und die Aufklärung von Fällen der Wildtierkriminalität verbessern.
Wildtierkriminalität ist in Mitteleuropa weit verbreitet und für seltene Arten eine erhebliche Bedrohung: Deutschlandweit wurden seit 2005 mehr als 1.600 Fälle illegaler Greifvogelverfolgung mit tausenden Opfern nachgewiesen. Derzeit leben in Deutschland knapp 130 Luchse. 13 von ihnen verschwanden allein zwischen 2018 und 2019 im bayerisch-böhmischen Raum. Hinzu kommen mindestens 79 Wölfe, welche in den letzten 24 Jahren Opfer illegaler Tötungen wurden. In Österreich sind mehr als 200 Wildvögel sowie 16 streng geschützte Säugetiere zwischen 2016 und 2022 Opfer illegaler Verfolgung geworden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, da viele Fälle unentdeckt bleiben oder nicht gemeldet werden.
https://wildlifecrime.info/

09.04.2024, Universität zu Köln
Menschen können Biodiversität erhöhen
Die Anwesenheit von Menschen erhöht die Heterogenität und Komplexität von Ökosystemen und wirkt sich oft positiv auf deren Biodiversität aus / Archäologische Studie trägt verschiedene Fallstudien aus dem Spätpleistozän zusammen
Kulturelle Diversität wirkt sich vermutlich insgesamt positiv auf die Biodiversität von Ökosystemen aus. Als ein entscheidender Motor der großen Aussterbeereignisse im „Zeitalter des Menschen“ (Anthropozän) kann daher die Homogenisierung von menschlichen Lebensformen angesehen werden. Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Shumon T. Hussain von der Universität zu Köln und Dr. Chris Baumann von der Universität Tübingen in ihrem kürzlich erschienenen Artikel „The human side of biodiversity: coevolution of the human niche, palaeo-synanthropy and ecosystem complexity in the deep human past“ im renommierten Journal Philosophical Transactions of the Royal Society B. Der Artikel fügt sich in den aktuellen thematischen Fokus „Multispecies Conviviality“ des Kölner Forschungszentrums MESH (Multidisciplinary Environmental Studies in the Humanities) ein.
Die Wissenschaftler beschreiben in der oben genannten Veröffentlichung die Rolle des Menschen in der Evolution und Steuerung von Biodiversität. Dabei folgen die Archäologen einer archäologischen Tiefenzeit-Perspektive, um zu argumentieren, dass die Idee, Menschen hätten als Jäger-Sammler harmonisch mit der Natur gelebt, das Grundproblem der menschlichen Interaktion mit den Ökosystemen falsch charakterisiert. Ebenfalls kritisieren die Wissenschaftler, dass in jüngerer Vergangenheit mit Hinblick auf die Aussterbeereignisse, den sogenannten anthropozänen Biodiversitätsverlust, oft versucht wurde nachzuweisen, dass Menschen schon vor mehr als 10.000 Jahren aktiv in ihr Ökosystem vor allem mit negativen Konsequenzen eingegriffen haben.
Mit ihrem Artikel zeigen die Forscher auf, dass das Verhältnis von Menschen und Ökosystemen schon immer sehr viel komplizierter und vielschichtiger war und neben negativen auch regelhaft positive Biodiversitätseffekte zu verzeichnen sind. „In der Regel kann sogar gesagt werden, dass es oftmals durch menschliche Aktivität lokal zu Biodiversitätsverlust kommt, an anderer Stelle Biodiversität aber stark gefördert wird, und diese Dynamiken daher in einen größeren Zusammenhang gestellt werden müssen“, so Hussain.
Die Studie trägt verschiedene Fallstudien aus dem Spätpleistozän (ca. 120.000 bis 11.800 Jahre vor heute) zusammen und stützt sich zudem auf eine jüngere Studie der beiden Autoren zu eiszeitlichen Raben, die zeigt, dass diese Vögel schon vor circa 30.000 Jahren vom Menschen als Nachbarn profitiert haben – vor allem von Nahrungsoptionen, die Jäger-Sammler in der Umwelt für diese Tiere zur Verfügung gestellt haben.
Die Archäologen stützten sich bei ihren Untersuchungen auf die Ergebnisse von archäozoologischen und stabilen Isotopen-Untersuchungen, die im Raben-Fall zu Anwendung kamen. Sie nutzten diese und andere bereits publizierte archäologische Kontextinformationen um zu zeigen, dass solche Prozesse lokal zu einer Erhöhung der Biodiversität führen können, weil bestimmte Tiere vom menschlichen Einfluss profitieren und andere, die vom Menschen lokal ausgeschlossen werden, wie zum Beispiel größere Raubtiere, auf andere Regionen ausweichen. Insgesamt erhöht dies die Heterogenität und Komplexität solcher Ökosysteme und wirkt sich somit oft positiv auf die Gesamtbiodiversität aus.
„Wir versuchen letztlich zu argumentieren, dass Biodiversitätsregime nicht vom menschlichen Einwirken getrennt werden können und nicht alle diese Einflüsse immer nur negativ sind“, erklärt Shumon Hussain. „Daraus folgt auch, dass Diversität an menschlichen Lebensformen sich vermutlich insgesamt positiv auf die Biodiversität auswirkt und ein entscheidender Motor der anthropozänen Biodiversitätskrise auch die Homogenisierung des menschlichen Lebens in und mit der Natur ist.“
Originalpublikation:
Shumon T. Hussain, Chris Baumann, „The human side of biodiversity: coevolution of the human niche, palaeo-synanthropy and ecosystem complexity in the deep human past“, Philosophical Transactions of the Royal Society B, 8. April 2024
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rstb.2023.0021

09.04.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Einheimische Gehölze für etwa ein Drittel der Insekten in Deutschland unverzichtbar
Senckenberg-Forschende zeigen in Kooperation mit weiteren Wissenschaftlern, dass mehrere Tausend einheimische Insektenarten in Deutschland von einheimischen Gehölzen abhängen. Allerdings werden in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit Anpassungen an den Klimawandel zunehmend gebietsfremde Baumarten gepflanzt. Das Forschungsteam weist darauf hin, dass die Verwendung einheimischer Baumarten unabdingbar ist, um dem Rückgang einheimischer Insektenarten zu begegnen. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift des Bundesamtes für Naturschutz „Natur und Landschaft“ veröffentlicht.
Blatt- und Rüsselkäfer, Wildbienen, Pflanzenwespen, Schmetterlinge, Wanzen und Zikaden – viele Insekten ernähren sich von verschiedenen Teilen holziger Pflanzen und sind für die Ökosysteme auch als Nahrung für andere Tierarten unersetzlich. „In den letzten Jahren konzentrierten sich Insektenschutzmaßnahmen überwiegend auf die Anlage von Blühflächen und die Vermeidung von Lichtverschmutzung, dabei spielen Gehölze eine herausragende Rolle für die Erhaltung der einheimischen Insektenfauna und müssen in die Betrachtungen zum Schutz der Insekten mit einbezogen werden“, erklärt Dr. Matthias Nuß von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden.
Nuß hat gemeinsam mit seinem Kollegen und Erstautor der Studie Dr. Sebastian Schuch und weiteren Forschenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in einer Literaturanalyse tausende einheimische Insektenarten betrachtet, die in mindestens einem Entwicklungsstadium Gehölze als Nahrungspflanze nutzen. In ihre Analyse flossen die Daten von etwa 74 Prozent aller in Deutschland einheimischen pflanzenfressenden Insektenarten ein. „Wir zeigen, dass von den insgesamt 8.127 betrachteten Blattkäfern, Prachtkäfern, Rüsselkäfern, Pflanzenwespen, Schmetterlingen, Wanzen, Wildbienen und Zikaden 3.140 Arten in mindestens einem Entwicklungsstadium auf Gehölze als Nahrungspflanzen angewiesen sind“, legt Schuch die Ergebnisse dar und ergänzt: „Berücksichtigt man, dass sich die Insektenfauna an Gehölzen nur zu einem Teil aus pflanzenfressenden Insekten zusammensetzt und dort zusätzlich auch Insektenarten leben, die sich von anderen Insekten, Pilzen, Algen, Flechten, Moosen oder toter organischer Substanz ernähren, ist die Anzahl der insgesamt an Gehölzen vorkommenden Insektenarten sogar noch erheblich höher. Nach unseren Erkenntnissen sind etwa ein Drittel der über 33.000 Insektenarten Deutschlands direkt oder indirekt in mindestens einem Lebensstadium von Gehölzen abhängig!“
Gebietsfremde Gehölze wurden schon in der Vergangenheit in der Forstwirtschaft und im Siedlungsraum genutzt. Im Zuge des globalen Klimawandels werden sie zunehmend empfohlen und gepflanzt, da man davon ausgeht, dass sie widerstandsfähiger gegenüber steigenden Temperaturen und zunehmender Trockenheit sind. „Für die einheimische Insektenwelt ist ein Umsatteln auf gebietsfremde Baumarten in der Forstwirtschaft und im Siedlungsraum aber fatal!“, so Nuß und weiter: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass gebietsfremde Gehölze nur von einem sehr kleinen Teil der einheimischen Insektenarten als Nahrung genutzt werden können.“
Insgesamt sind von den auf Gehölze angewiesenen Insektenarten knapp 89 Prozent auf Gehölzgattungen zu finden, die mit mindestens einer einheimischen Art in Deutschland vertreten sind. 10 Prozent der betrachteten Insektenarten nutzen sowohl Gattungen mit mindestens einer einheimischen Gehölzart als auch Gattungen, die in Deutschland nur mit gebietsfremden Arten vertreten sind. Nur 1,4 Prozent ernähren sich ausschließlich an Gehölzgattungen, die in Deutschland nur mit gebietsfremden Arten vertreten sind. „Bei Letzteren handelt es sich um eingeschleppte Insektenarten oder solche mit einem sehr breiten Nahrungsspektrum an Pflanzen ganz unterschiedlicher Verwandtschaftsgruppen – diese Tiere spielen für die Erhaltung der einheimischen Insektenvielfalt nur eine untergeordnete Rolle“, fügt Schuch hinzu.
Das Forschungsteam empfiehlt aufgrund seiner Analyse daher einheimische Baumarten und deren genetische Variabilität bevorzugt zu nutzen. „Es gibt Studien, die zeigen, dass beispielsweise verschiedene Individuen der Rotbuche – Fagus sylvatica – innerhalb eines Bestands unterschiedlich auf Trockenstress reagieren und dass diesem Phänomen eine genotypische Variabilität zugrunde liegt. Bei der Auswahl geeigneter Gehölze zur Klimawandelanpassung sollte deshalb die vorhandene genetische Variabilität einheimischer Arten eine viel größere Rolle spielen“, erläutert Nuß.
Sollten gebietsfremde Gehölzarten in Betracht gezogen werden, dann seien Arten aus Gattungen mit weiteren in Deutschland einheimischen Gehölzarten zu bevorzugen, so die Forschenden. Diese gebietsfremden Arten sollten den einheimischen Arten stammesgeschichtlich nahestehen und zudem aus geographisch nahegelegenen Regionen stammen, damit sie für einen möglichst großen Teil der einheimischen Insektenarten als Nahrungspflanzen dienen können. Nuß ergänzt: „Hitze- und trockenheitsresistentere Gehölzarten lassen sich nicht nur auf anderen Kontinenten, sondern auch in Süd- oder Südosteuropa finden.“
„Festzuhalten ist: Die Förderung der einheimischen Baumartenvielfalt im Siedlungsraum und in der Forstwirtschaft ist von großer Bedeutung für pflanzenfressende Insekten. Gebietsfremde Gehölzarten aus Gattungen, die mit keinen einheimischen Arten in Deutschland vertreten sind, sind für die Erhaltung der einheimischen Insektenvielfalt weitestgehend ungeeignet. Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sollten deshalb zusammen mit Maßnahmen zur Bewahrung der Biodiversität konzipiert und umgesetzt werden“, schließt Schuch.
Originalpublikation:
Schuch S., Kahnis T., Floren A., Dorow W.H.O., Rabitsch W., Goßner M.M., Blank S.M., Liston A., Segerer A.H., Sobczyk T., Nuß M. (2024): Die Bedeutung von Gehölzen für einheimische, phytophage Insekten. Natur und Landschaft 99(4): 174 – 179. https://doi.org/10.19217/NuL2024-04-02 (inkl. Zusatzmaterial)

10.04.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Windenergie und Fledermausschutz: Forschende fordern globale Anwendung von Maßnahmen zur Senkung der Schlagopferzahlen
Überall auf der Welt boomt der Ausbau von Windenergieanlagen als Baustein für eine klimafreundliche Stromproduktion – und überall stellt dies Fledermäuse vor große Herausforderungen, die direkt an den Anlagen sterben oder wertvollen Lebensraum verlieren. Ein Forschungsteam aus Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kenia, Puerto Rico, Taiwan und den USA analysierte nun Lösungsmöglichkeiten für diesen grün-grünen Konflikt mit globaler Tragweite und identifizierte notwendige Schritte, um Klima- und Artenschutz besser zu vereinbaren.
Das Forschungsteam legt in der Fachzeitschrift „BioScience“ dar, dass wissenschaftlich bestätigte Methoden zu Reduzierung von Schlagopfern weltweit konsequenter in Regularien zum Betrieb von Windenergieanlagen implementiert und erhebliche Forschungslücken zur Interaktion von Fledermäusen mit diesen Anlagen in Schwellenländern und tropischen Lebensräumen geschlossen werden müssten.
Der Klimawandel erfordert effektive Maßnahmen, die den Ausstoß von Treibhausgasen bei der Energieproduktion reduzieren. Der Ausbau der Produktion von Windenergie ist ein vielversprechender Weg, da die Stromausbeute gemessen an den Investitionen und der genutzten Fläche relativ hoch ist. Doch dieser Weg wirkt sich mitunter nachteilig auf die lokale biologische Vielfalt aus, da die Windenergieanlagen stark in die Lebensräume in ihrer direkten Umgebung eingreifen. Insbesondere Fledermäuse, Vögel und Insekten sind in mehrfacher Hinsicht betroffen: „Fledermäuse kollidieren mit den Rotorblättern, wenn sie den drehenden Rotoren zu nahe kommen“, sagt PD Dr. Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie und Fledermausspezialist am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW). „Dazu kommen direkte und indirekte Lebensraumverluste in der Umgebung der Anlagen sowie in deren weiteren Umfeldern, da einige Fledermausarten Windkraftanlagen weiträumig meiden und somit aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben werden.“ Hochrechnungen ergaben, dass allein in Deutschland jedes Jahr mehr als 200.000 Fledermäuse an Windenergieanlagen sterben. Es handelt sich also um ein gravierendes Artenschutzproblem, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, wie das Forschungsteam feststellt. Der globale Ausbau der Energienutzung aus Windkraft kann demnach zum Problem für den Erhalt der biologischen Vielfalt werden.
In der Europäischen Union, Teilen der USA und in Kanada wurden bereits erfolgreich Maßnahmen zur Verringerung der Schlagopferzahlen von Fledermäusen etabliert. Ihnen folgend sollten erstens Windenergieanlagen nicht an ökologisch wertvollen Standorten errichtet werden, so sollten struktur- und artenreiche Wälder nicht für die Windenergienutzung freigegeben werden. Darüber hinaus sollten beim Bau von Windenergieanlagen die Nähe von Waldrändern oder Gewässern sowie bekannte Zugkorridore von Vögeln und Fledermäusen gemieden werden. Zweitens sollten in der Nacht windschwache und somit ertragsarme Zeiträume, in denen Fledermäuse hauptsächlich aktiv sind, vom Betrieb ausgenommen werden („curtailment“). Für Anlagen in den gemäßigten Breiten gilt üblicherweise, dass derartige Betriebssteuerungen zwar einen Verlust im Jahresenergieertrag von einem bis vier Prozent ergeben, dadurch die Schlagopferzahlen jedoch um mehr als 80 Prozent gesenkt werden können. Darüber hinaus sollten die Rotorblätter bei geringen Windgeschwindigkeiten, wenn die Anlagen ohnehin keinen Strom erzeugen, in einem Winkel zum Wind eingestellt werden, der nur ein langsames Drehen der Rotorblätter zulässt. Dies reduziert ebenfalls das Schlagrisiko von Fledermäusen an den Rotorblättern.
Diese Maßnahmen könnten die Vereinbarkeit von Klima- und Artenschutz verbessern, so das Forschungsteam – wenn sie denn ausreichend umgesetzt werden. Hier gebe es großen Nachholbedarf, denn bislang finden sich entsprechende Auflagen nahezu ausschließlich in den Regularien von Ländern, in denen Fledermäuse unter Schutz stehen. Global trifft dies auf nur wenige Länder zu. In den USA werden nur solche Fledermausarten geschützt, die als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft sind und damit unter das Naturschutzgesetz („Endangered Species Act“) fallen. In den EU-Staaten sind alle Fledermausarten streng geschützt, die Umsetzung von Schutzmaßnahmen sei aber dennoch lückenhaft. „Beispielsweise werden in Deutschland zwei Drittel der Windenergieanlagen auf dem Festland, immerhin 18.000 Anlagen, ohne Betriebssteuerungen zum Fledermausschutz betrieben“, erklärt Voigt. „Ohne diese Betriebssteuerungen versterben an einer einzigen Anlage im Mittel 14 Fledermäuse pro Jahr, an manchen Anlagen sogar über 100 Tiere pro Jahr.“
Global seien die Probleme für Fledermäuse sogar noch größer, schreibt das Forschungsteam in dem Aufsatz. Die Konvention zum Schutz ziehender Arten („Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals“) des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) fordert den Schutz von Fledermäusen. Obwohl weltweit 131 Länder dieser UN Konvention beigetreten sind, implementierten die meisten unterzeichnenden Staaten wenige oder keine Schutzmaßnahmen für Fledermäuse an Windenergieanlagen. Zudem seien sich manche internationale Vertretungen der Windenergie-Branche nicht der Notwendigkeit bewusst, den Schutz der biologischen Vielfalt beim Ausbau der Windenergienutzung mitzudenken. So würden die Arbeiten der „International Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“ (IPBES) nicht ausreichend berücksichtigt und Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arten ignoriert oder von Investoren als hinderlich kritisiert.
„In Brasilien zum Beispiel werden Windparks in Gebieten mit hohem Wert für die biologische Vielfalt errichtet“, sagt Prof. Dr. Enrico Bernard von der Universidade Federal de Pernambuco in Recife (Brasilien), einer der Ko-Autoren des Aufsatzes. „Die Umweltauflagen sind jedoch niedrig. Im Globalen Süden sind strengere Regulierungen beim Bau und Betrieb von Anlagen dringend erforderlich – auch von internationalen Akteuren, die Windparks in Europa oder Nordamerika betreiben. Sie sollten die gleichen hohen Standards für ihre Windparks auch beispielsweise in Süd- und Mittelamerika übernehmen.“ Bernard schlussfolgert, dass die Übernahme von Standards nach dem Vorbild Nordamerikas und Europas im Globalen Süden ein großer Schritt für den Fledermausschutz darstellen würde.
Nicht zuletzt offenbare der globale Siegeszug der Windenergienutzung auch erhebliche Forschungslücken. Vielerorts boome zwar die Windenergienutzung an besonderen Hotspots der biologischen Vielfalt, es fehlten jedoch grundlegende Kenntnisse über das Kollisionsrisiko der dort beheimateten Fledermausarten an Windenergieanlagen. Gleiches gelte für Flughunde, die ebenso regelmäßig in Afrika, Asien und Australien tödlich an Windenergieanlagen verunglücken. „Uns fehlen Kenntnisse über Schlagopferzahlen und über saisonale Aktivitätsmuster, sowie darüber, ob die in Mitteleuropa und Nordamerika als wirksam bewerteten Maßnahmen auch in subtropischen oder subtropischen Regionen greifen“, schließt Voigt. Diese Lücken müssten dringend geschlossen werden.
Fledermäuse und Flughunde sind weltweit wichtige Akteure in natürlichen Kreisläufen. Sie verzehren Schadinsekten, verbreiten in subtropischen und tropischen Regionen Samen von Bäumen und bestäuben zahlreiche Pflanzen. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen belegt auch den dadurch entstehenden, hohen wirtschaftlichen Nutzen von Fledermäusen und Flughunden. Der Schutz dieser Tiergruppe an Windenergieanlagen sollte also im Eigeninteresse des Menschen liegen, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Originalpublikation:
Voigt CC, Bernard E, Huang JC, Frick WF, Kerbiriou C, Macewan K, Mathews F, Rodríguez-Durán A, Scholz C, Webala PW, Welbergen J, Whitby M (2024): Towards solving the global green-green dilemma between wind energy production and bat conservation. BioScience, 2024, 0, 1–13. DOI: 10.1093/biosci/biae023

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