#15 Im Wartesaal der Lebensmitte

Nur nicht zynisch werden?

Bei aller Disziplin fällt es mir von Zeit zu Zeit schwer, an meinen Vorhaben und Zielen dranzubleiben. Da geht dann streckenweise einfach mal Fokus oder Wille oder beides gleichzeitig verloren. Aber so ist das halt, das passiert. Auf der Suche nach neuer Motivation stellte ich kürzlich erstaunt fest, dass mir kleine zynische Exkurse helfen, wieder auf die Spur zu kommen und klarer zu sehen. 

Das funktioniert so: Ich schaue mal ganz bewusst etwas übertrieben und ironisch auf die Welt, auf mich und mein Leben. Und dabei deaktiviere ich einfach mal alle Filter und Reflektoren. Die Devise heißt: verallgemeinern, vereinfachen, überspitzen, dem Sarkasmus und allen Vorurteilen freien Lauf lassen. Da kommt dann am Ende eine für mich einfache, manchmal auch komische oder gar erschreckende Message heraus und dann frage ich mich: „Ach SO sehe ich das? Echt jetzt?“ Und dann stellt sich auf einmal mein Fokus wie bei einer Autokorrektur zurück auf scharf und ich realisiere wieder so richtig, worauf es eigentlich wirklich ankommt, wie und wer ich sein oder auch nicht sein will und welche Sicht auf die Dinge mir am besten täte.

Zwischen Beißschiene und Baldrian Dragees

Eine solche Session mit mir selbst hatte ich neulich, als ich mich fragte, wie das eigentlich für mich mit dem Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aussieht und mit diesem gehypten “Leben im Hier und Jetzt”. In jedem Achtsamkeitsratgeber, der ja spätestens ab Mitte 40 neben Beißschiene und Baldrian Dragees in die Schublade jedes gut sortierten Nachttisches gehört, lesen wir es: Wir sollen doch bitte im Hier und Jetzt leben, um ganz bei uns und auf dem Weg zu unserer Glückseligkeit zu sein.

Aber das mit dem Leben in der Gegenwart ist oft so eine Sache. Ganz einfache Formel: Beim Nachbarn ist das Gras immer grüner und unser Leben in der Zukunft wird (noch) besser. Jedenfalls bekommen viele in unserem Alter, ob in der Midlife-Crisis oder nicht, irgendwann so einen Rappel, so ein diffuses Gefühl von Sehnsucht nach etwas, was wir vielleicht noch gar nicht so richtig beschreiben können, was aber unbedingt in unserem Leben noch passieren soll oder was wir noch erlebt haben wollen, bevor wir eines Tages – getreu dem Motto “Asche zu Asche, Staub zu Staub” – unseren Aggregatzustand gewechselt haben werden. 

Wartet jenseits vom Hier und Jetzt unser Freizeit-Messias auf uns?

Das ultimative Geschenk vom Freizeit-Messias

Für viele Menschen strahlt ihr persönlicher Bethlehem-Stern über etwas, was wir “Rente” oder wahlweise auch “Pension” oder “Ruhestand” nennen. Ruhe ist super, Ruhe klingt stressfrei und entspannt, will ich! Also folgen wir jahre-, manchmal auch jahrzehntelang diesem Stern, der uns den Weg zu mehr Ruhe, weniger Stress und unserem eigentlichen und sowieso viel besseren Leben zu weisen scheint, welches natürlich erst dann so richtig beginnt, sobald wir nicht mehr arbeiten müssen.

Wir folgen also diesem Stern, in der Hoffnung, dass er uns an den verheißungsvollen Ort führen möge, wo wir von so einer Art Freizeit-Messias empfangen werden. Der wartet da schon unser ganzes Leben lang, um uns zur Begrüßung dann endlich das zu schenken, wovon wir montags bis freitags von 9 – 17 Uhr bisher nur träumen. Was sich in diesen Träumen tatsächlich abspielt und was also in dieser Ruhestands-Geschenkbox vom Freizeit-Messias für uns drin ist, wer weiß das schon so genau? Irgendwas mit Reisen oder so? Vielleicht auch was mit Lesen, Gärtnern, Kochen, Heimwerkern, Wellness, Sport und mehr Zeit mit Partner, Familie und dem Weber-Grill? Oder einfach nur noch ausschlafen und dann bis spät in die Nacht “Me Time” auf dem Sofa, wo wir uns Infusionen aus NETFLIX, Chips und lecker Drinks ins allmählich in den Standby-Modus wegdämmernde Ruhestands-Hirn ballern? 

Wenn ich erstmal im Ruhestand bin!

Auf jeden Fall gibt es in den meisten Wenn-ich-erstmal-im-Ruhestand-bin-Träumen eine strikte Abwesenheit jeglicher Verpflichtung, bei der wir uns für irgendwelche undankbaren und sowieso unfähigen und unfairen Vorgesetzten unseren Allerwertesten aufreißen, den wir mittlerweile vor lauter Unlust eh kaum noch aus dem Bett bekommen. Der schiere Gedanke an Rente, Pension oder Ruhestand – wie auch immer wir diese geniale Erfindung, dieses Elysium aller Arbeitsüberdrüssigen nennen mögen – löst in vielen von uns starke romantische Gefühle und eine unbeschreibliche Sehnsucht aus. Doch wonach eigentlich?

Relaxen im Ruhestand.

Sehnsucht nach Freiheit, Freizeit und vor allem nach der Abwesenheit jeglicher Verpflichtung. Im Ruhestand wird dieser Traum endlich Realität!

Wahrscheinlich ist es die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit, die der Phantasie aller müde-vor-sich-hin-arbeitenden Burn- oder Boreout-Anwärter größere Flügel verleiht als das massenhafte In-sich-Hineinschütten eines Energydrinks, der einst in unserer Jugend für die Sache mit den Flügeln zuständig war.

Doch diese koffeinüberladene Zuckerbrühe trinken wir schon lange nicht mehr, weil die uns in unserem Alter entweder zu ungesund geworden ist, sie unsere meno- oder andropausenbedingten Schlafstörungen nur noch forciert (super Thema übrigens für jede Ü50 Party) oder wir aus reinem Öko-Shaming schon gar keine Dosen mehr kaufen oder gar in die Hand nehmen. 

Ich geb Gas, ich will Spaß!

Nicht nur mit diesem ganzen Dosensuff hat unsere partygeile Generation X in den letzten 40 Jahren seine godzillaartigen CO2-Fußabdrücke metertief und irreversibel in die von uns geschundene Erde gestampft, während wir benebelt aber happy auf der Loveparade getanzt, in den Berliner Tiergarten gepinkelt und uns danach bei laufendem (Verbrenner!!!)-Motor im Drive-in ökologisch und politisch unkorrektes Fastfood reingezogen haben. Die zahlreichen Plastik-Accessoires und Styropor-Utensilien dümpeln noch heute als stumme Zeugen unserer jugendlichen Fastfood-Orgien durch die verdreckten Weltmeere.

Das Motto einstiger Jugend? Friede, Freude, Eierkuchen!

Motto der ersten Loveparade vom 1. Juli 1989

Die Generation Z bis Alpha, also in etwa unsere heutigen Teenagerkinder, die unseren Ich-geb-Gas-ich-will-Spaß-Lifestyle und die in ihren Augen unfähigen und unwilligen Politiker dafür verantwortlich machen, dass sie sich die einstigen Unverschämtheiten und Umweltsauereien ihrer Eltern nicht mehr leisten dürfen, kompensieren ihren Frust mit freitags Schuleschwänzen und dem Gebrauch von Klebstoff und Kartoffelbrei, den sie allerdings nicht schnüffeln oder essen, so wie wir das früher noch gemacht hätten. Nein, mit dem Klebstoff pappen die sich aus Protest irgendwo hin, wo sie keine Sau mehr so richtig abgekratzt bekommt oder sie schmeißen die armen Stampfkartoffeln auf irgendwelche ahnungslosen, sich keiner Schuld bewussten, Kunstwerke.

Schwieriges Erbe. Die nachfolgende Generation muss irgendwie in die CO2-haltigen Fußstapfen ihrer Eltern treten.

Da lobe ich mir doch die tollkühnen Taten einstiger Greenpeace-Haudegen. Die sind noch bei Wind und Wetter auf hoher See in Schlauchbooten gegen Walfänger in den Kampf gezogen, haben sich von Industrieschornsteinen abgeseilt oder sind waghalsige Fallschirmeinsätze gegen umweltverschmutzende Bonzenzentralen geflogen. Die 80er waren einfach das Jahrzehnt der Action. Heute ist irgendwie so wenig Action und so viel Warten. Es ist schon blöd, wenn sich heutzutage so ein ahnungs- und einfallsloses Irrlicht in der Rush-Hour auf die Stadtautobahn klebt und man da – das gebietet allein schon die Höflichkeit – nicht einfach so actionmäßig drüberfahren kann. Da heißt es dann artig und geduldig im Stau warten, bis die Feuerwehr das Problem vom Asphalt geflext oder – besser noch, denn wir wollen ja niemanden verletzen – die verklebten Extremitäten dieser armen Kreatur zärtlich von der Straße massiert hat.

Bitte warten … Bitte warten … Bitte warten …

Geduldig warten! Damit schließt sich mein Gedankenkreis. Wir warten irgendwie viel zu viel.

Wir warten auf das Ende eines Staus, wir warten auf den ICE, wir warten auf den Feierabend, wir warten aufs Wochenende, wir warten auf den Tatort, wir warten auf den Sommer, unseren Urlaub und die Zahlung unseres nächsten Gehalts. Wir warten auf unsere Beförderung oder einen baldigen Jobwechsel oder wenigstens darauf, dass unsere krankgeschriebenen Kollegen bald wieder am Start sind, für die wir gerade lästige Zusatzarbeit übernehmen müssen. Wir warten auf die nächste DHL, Amazon- oder Lieferando-Lieferung und in schlaflosen Nächten warten wir darauf, dass das Schäfchenzählen oder einer unserer „Little Helper“, Baldrian, Johanneskraut oder härtere Mittelchen der Pharmaindustrie, doch endlich Wirkung zeigen mögen. Wir warten auf das Ergebnis der letzten Krebsvorsorge-Untersuchung, auf die nächste Physiotherapie (ich hab doch jetzt Rücken), auf das Ende der Pubertät unserer Kinder und aufs Christkind und den Osterhasen, weil da sind dann Feiertage und wir müssen nicht arbeiten. Und auf Silvester warten wir auch, weil dann ist wieder ein Jahr geschafft und wir dürfen unsere guten Vorsätze für das neue Jahr aufwärmen, die wir dann wie immer bis Ende Januar auch knallhart durchziehen (“Du, die Katrin geht jetzt wieder ins Fitness-Studio und hat schon 2 Kilo abgenommen.”, “Nee, echt jetzt?!”). Außerdem ist der 1. Januar ein verlässlicher Feiertag und wir müssen nicht arbeiten. Das ist gut. Und seit wir eh kaum noch Alkohol vertragen und in der Silvesternacht spätestens ab 1 Uhr und ziemlich nüchtern im Bett liegen, können wir den nächsten Tag auch weitestgehend katerfrei auskosten. Aber eigentlich auch nicht so richtig, weil tags darauf ist ja vielleicht schon wieder Arbeit angesagt und irgendwie können wir beim Gedanken daran gar nicht so richtig abschalten und unseren freien Tag genießen.

Da war es früher geiler. Da lagen wir den ganzen 1. Januar in einem schmerzhaften aber irgendwie auch schön betäubenden Dilirium.

Da war es früher geiler. Da lagen wir den ganzen 1. Januar in einem schmerzhaften aber irgendwie auch schön betäubenden Delirium und konnten kaum vom Bett bis zur Kloschüssel denken, geschweige denn bis zum nächsten Tag.

Ach ja, und dann warten wir noch auf die nächste Eiszeit, denn dann kühlt sich die von unserer ignoranten Generation so aufgeheizte Welt mal wieder ein bisschen ab. Das wäre dann mal ein wirklich starkes Signal gegen den Klimawandel und gut für den Meeresspiegel und für die vielen Südsee-Inseln, die dann nicht untergehen. Am Ende profitieren wir schließlich auch davon, weil diese Inseln dann noch da sind, wenn wir in den Ruhestand gehen – auf den wir natürlich ganz besonders warten – und endlich genug Zeit haben, um auch mal in die Südsee zu reisen. Bis dahin warten wir aber noch, bis wir genug Geld angespart haben und darauf, dass jemand die blöde Sache mit der Inflation zu unseren Gunsten klärt.

Und abends gab’s Sesamstraße und Kakao

Wir warten natürlich auch auf das Ende des Ukraine-Krieges und überhaupt darauf, dass aller Wahnsinn, einschließlich unser Arbeitsleben, endet und die Welt endlich wieder in Ordnung kommt, so in Ordnung wenigstens, wie wir sie noch aus unserer sorglosen Kindheit in Erinnerung haben. Da sind wir irgendwo vom Baum gefallen, Mama hat zu Hause ein Pflaster draufgemacht, dreimal gepustet und Heile-Heile-Gänschen gesungen. Das war’s. Und abends gab’s die Sesamstraße mit warmem Kakao. So einfach kann die Welt sein. Aber als 50-Jähriger klettert man halt nicht mehr so viel auf Bäume, da denkt man ganz viel nach und erzählt ständig seinen Kindern davon, dass man früher mit seinen Freunden ja immer auf Bäume geklettert sei. Manchmal frage ich mich, wie ich als Kind überhaupt noch einen Platz auf einem Baum bekommen habe. Wenn es nach den Geschichten geht, die in meiner Generation kursieren, dann müssen in den 70er Jahren alle Kinder auf Bäumen gelebt haben. 

Kindheitserinnerungen …

Mein Kletterbaum und ich

Vielleicht verzichte ich ja auf die Geschenkbox, die mir mein persönlicher Freizeit-Messias irgendwann einmal zum Ruhestand überreichen würde und wünsche mir stattdessen schon heute von ihm einen Kletterbaum. Damit würde ich gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich hätte beim Warten – worauf auch immer – eine super gute Aussicht von da oben und alles wäre sehr unkompliziert. Meine Ü50-Freunde, die ja damals auch alle auf Bäumen aufgewachsen sind, lade ich ein, zu mir heraufzukommen. Dann sitzen wir gemeinsam auf dem Baum und warten. Und wir schauen runter auf die uns nachfolgende Generation und echauffieren uns über deren Ansichten und Verhalten, während wir in unseren eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen schwelgen und einer Zeit hinterherjammern, als die Welt noch in Ordnung war. So schön wie früher wird’s halt nicht mehr, oder? Warten wir’s ab.

Das soll es für heute erstmal gewesen sein. Danke für dein Interesse, bis bald und herzliche Grüße,

Till Aigner

Level X Gründer und Autor. Motto: Die Midlife-Crisis als Chance und Abenteuer begreifen.

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2 Gedanken zu „#15 Im Wartesaal der Lebensmitte“

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