Literatur, Roman

Forsch, furchtlos und widerständig

Von der Gegenwartsliteratur aus Spanien, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, beeindrucken vor allem die Romane junger Autor:innen, die sich intensiv mit den aktuellen Fragen der Zeit auseinandersetzen, die belastete Geschichte des Landes aber nicht außen vor lassen.

»Fickt Euch doch alle«, brüllen die Ich-Erzählerin und ihre wenige Jahre ältere Freundin in Najat El Hachmis Entwicklungsroman »Am Montag werden sie uns lieben«. Mit alle sind »die Väter, die Brüder, die Ehemänner, die Prediger« gemeint, die mit ihren gleichermaßen lüsternen wie abschätzigen Worten, Blicken und Taten das Leben der beiden Frauen terrorisiert haben.

Die 1979 in der marokkanischen Provinz geborene Autorin erhielt im vergangenen Jahr für ihren aktuellen, bereits fünften Roman Spaniens ältesten Literaturpreis, den Premio Nadal. Es ist nur eine von vielen Auszeichnungen, mit der das Werk der in Barcelona lebenden Autorin bislang ausgezeichnet wurde. Dieses dreht sich immer wieder um die Frage, wie ihre Heldinnen zwischen den Anforderungen traditioneller Wertesysteme und Familienmodelle einerseits und den Bedürfnissen der modernen spanisch-katalanischen Kultur ihren eigenen Weg finden müssen. Motive der eigenen Immigrations- und Integrationsgeschichte finden sich in all ihren Romanen.

Najat El Hachmi: Am Montag werden sie uns lieben. Aus dem Spanischen von Michael Ebmeyer. Orlanda Verlag 2022. 272 Seiten. 22 Euro. Hier bestellen.

Hier nun schreibt eine erfolgreiche Schriftstellerin einen Brief an ein anonymes Du, das sich als jene Freundin herausstellt, mit der sie später in die Nacht brüllt. Es entfaltet sich eine Emanzipationsgeschichte, die davon handelt, wie sich zwei Frauen aus der Beklemmung der Trabantenstadt zwischen Schnellstraße, Fluss und Gleisen in Zentrum von Barcelona vorkämpfen. Dieser Weg ist steinig und schmerzhaft, handelt von Einsamkeit und Entwurzelung, und ist auch deshalb den Mutigen gewidmet, »die vom rechten Weg abkommen, um frei zu sein«.

Die Freundin dient dabei als Vorbild und Gegenüber, die die Herausforderung der Emanzipation vermeintlich besser bewältigt. Letztlich führen aber beide einen doppelten Kampf – gegen die Kultur von Unterordnung und Gehorsam, aus der sie kommen, und gegen den (körperlichen) Erwartungsdruck der Gesellschaft, in die sie wollen. Denn während in den vier Wänden der elterlichen oder ehelichen Wohnung selbstverlorene Patriarchen jeden Fortschritt verhindern, müssen sich die »Moros« draußen permanent anpassen. Sozialer Druck, wohin man schaut. In der Hoffnung, irgendwann die Erwartungen Aller erfüllen zu können, vertagt sich die Erzählerin immer wieder auf den Montag der kommenden Woche.

In einer klaren Prosa schreibt El Hachmi über Scham und Selbstzweifel ihrer Erzählerin, aber auch über ihre Entschlossenheit, Neugier und Lebensfreude. Sie übersetzt ihre Erfahrung in Empathie und lässt ihre Leser:innen teilhaben an der Zerrissenheit und den Entbehrungen ihrer Figuren, die allen Widerständen zum Trotz mutig der Freiheit entgegenlaufen. Michael Ebmeyer hat das packend übersetzt, nur selten greift er unglücklich ins Register, etwa wenn die tratschende Nachbarin im Immigrantenviertel von der Erzählerin im antiquierten Ton als »Klatschbase« bezeichnet wird.


Kiko Amat: Träume aus Beton. Aus dem Spanischen von Daniel Müller. Heyne Hardcore. 560 Seiten. 18,99 Euro. Hier bestellen.

In der katalanischen Hauptstadt Barcelona spielt auch Kiko Amats kraftvolle Sozialstudie »Träume aus Beton«. Der Autor ist in einem sozialen Schwerpunkt am Rande Barcelonas groß geworden und nach sechs Romanen längst eine Art Kultfigur in der spanischen Literatur. Nun ist er erstmals auch in Deutschland zu entdecken ist und so ganz weiß man nicht, warum man bislang noch nichts von ihm gehört hat. Sein von Daniel Müller packend übersetzter Roman ist ein Pageturner mit amerikanischem Drive, erzählt die Geschichte von einem Außenseiter vor dem Hintergrund der Fussball-WM in Spanien und des Falkland-Krieges in Südamerika.

»Curro ist geisteskrank und wirkt auch so«, heißt es im Roman und dass die Auseinandersetzung mit derart marginalisierten Menschen lohnt, wird auch mit Blick auf Cristina Morales Roman »Leichte Sprache« sichtbar. Curro lebt im sozialen Abseits, Menschen machen um seine heruntergekommene Erscheinung einen Bogen, aber sein »Äußeres ist das geringste seiner Probleme.«

Amats Anti-Held hat ein Gewaltproblem und je länger man liest, desto mehr fragt man sich, ob es nicht die Verhältnisse sind, die den Menschen zu dem machen, der er ist. Denn die Trabantenstadt, in der Curro lebt, ist eine Welt voller Gewalt und Grausamkeit, die zwangsläufig in eine aggressive Abgestumpftheit führen muss. Das lässt niemanden aus. In dieser Welt werden die Alten von der Brutalität des Franco-Regimes heimgesucht, deren Kinder tragen diese Wunden weiter und in der Jugend etabliert sich ein neuer Fascho-Kult, der der erfahrenen gesellschaftlichen Ablehnung mit Gewalt begegnet.


Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos. Aus dem Spanischen von Christiane Quandt. Kiepenheuer & Witsch 2022, 192 Seiten. 20 Euro. Hier bestellen.

Frei wie der Wind scheinen die beiden zehnjährigen Mädchen zu sein, die in Andrea Abreus Roman »So forsch, so furchtlos« in einem Dorf auf Teneriffa für Trubel sorgen. Sie machen allerlei Unsinn, träumen von Tagen am Strand und versuchen Kontrolle über ihre aufgrund der beginnenden Pubertät entgleitenden Körper zu erlangen. Sie fressen, kotzen und spielen an sich herum, während die (Groß)Väter in den Bars Wein trinken und die (Groß)Mütter den Haushalt machen.

Die 1995 auf Teneriffa geborene Andrea Abreu ist der neue Shootingstar der spanischsprachigen Literaturszene, 2021 wurde sie vom renommierten Granta Magazine zu einer der besten jungen Autor:innen Spaniens gekürt. Ihr Debütroman wurde hymnisch gefeiert, auch hier erhielt Christiane Quandts rasante Übersetzung begeisterte Kritiken. Tatsächlich entwickelt diese in der Hitze des Sommers flirrende Geschichte mitunter die Wirkung eines Aufwärtshakens – »okay, Bitch, ich geh schon, Bitch, in Ordnung, Bitch, was immer du willst, Bitch« –, liest sich aufgrund der konsequent rotzigen Rollenprosa aber eher wie ein Coming-of-Age-Roman für Jugendliche, der sich seinen Titel zum Programm macht.

Dabei setzt der Text auf mitunter harte und politische Themen, auf Gewalt, Missbrauch und kindliche Verwahrlosung, denen die beiden jungen weiblichen Hauptfiguren resolut ihr Aufbegehren und Emanzipation entgegensetzen. Postkolonialismus und die Ausbeutung der Insel als Urlaubsparadies drücken dem Roman zusätzlich einen Stempel auf. Das alles ist rasant erzählt, dem Autor dieses Textes aber zu erratisch vorgetragen, als dass er sich in die große Begeisterung für diesen Roman einreihen würde. Übersetzerin Christiane Quandt wies aber darauf hin, dass »gerade die Beiläufigkeit die große Kunst« ist. Sie hat damit nicht unrecht.


Blai Bonet: Das Meer. Aus dem Katalanischen von Frank Henseleit. Kupido Verlag 2021. 280 Seiten. 27,80 Euro. Hier bestellen.

Ebenfalls auf einer spanischen Urlaubsinsel spielt Blai Bonets bereits im vergangenen Jahr erstmals in der deutschen Übersetzung von Frank Henseleit erschienenen Roman »Das Meer«. Der bereits 1958 in Spanien nach langem ingen mit der Zensur veröffentlichte Roman erzählt die Geschichte von zwei Tuberkulose-Kranken, die sich 1942 in einem mallorquinischen Sanatorium begegnen.

Manuel und Ramallo treffen sich nach den schrecklichen Jahren des Bürgerkrieges in der Lungenklinik wieder, wo die Tuberkulose wie eine Bestie wütet. Um sie herum ist der Tod junger Menschen allgegenwärtig und auch um sie steht es nicht gut. Zeit, sich nach dem Kern des Menschen und ihrer Identität zu fragen, um Grenzen auszutesten, sexuelle Erfahrungen zu machen und sich gegen Gewalt aufzulehnen. Homosexualität und Christentum kreuzen hier konsequent die Klingen, manch Leser:in fühlen sich an Pasolinis kathartisches Kino erinnert.

Aus dem Kino kennt auch so manche:r diese Geschichte. Vor über zwanzig Jahren wurde Agustí Villarongas prämierte Verfilmung bei der Berlinale uraufgeführt. Inzwischen ist aber der Roman selbst auch wiederentdeckt worden, 2015 wurde er vom World Literature Today Magazine in die Reihe der lesenswertesten Bücher des Jahres aufgenommen.

Der Literaturwissenschaftler Xavier Pla schreibt in seinem Nachwort, dass Bonets Stimme – »so erdig, exaltiert, konvulsiv, radikal, luzide, widersprüchlich, leidenschaftlich« – in der katalanischen Literatur keinesgleichen kenne. »Bonet ist ein Autor, der Literatur als ein Risiko auffasst, als eine extreme Überspannung, die von innen aufgeladen wird«, schreibt Pla. Der Roman lebt von der lebendigen, zarten und unverstellten Betrachtung seiner jungen Helden, denen die Zeit und die Umstände, in denen sie leben, jede Illusion genommen hat. Die ihren Altersgenossen in die schwarzen Augen schauen, »aus deren violetter Tiefe die Ahnung, zu sterben, hervorschien«.


José Ovejero: Aufstand. Aus dem Spanischen von Patricia Hansel. Edition Nautilus 2022. 328 Seiten. 26 Euro. Hier bestellen.

Der »Aufstand« junger Menschen gegen die etablierten kaputten Verhältnisse zwei Generationen später steht in José Ovejeros Roman im Mittelpunkt. Er erzählt von einem Vater und seiner heranwachsenden Tochter in Zeiten der Wirtschaftskrise. Aitor ist ein Radiomoderator, aber die Aufträge werden immer seltener und seine Sendungen immer mehr in die Randzeiten gedrängt. Er fügt sich in seine Situation, um über die Runden zu kommen. Ganz anders seine Tochter Ana, die wilde Debatten über die gesellschaftlichen Zustände führt, die sie umgeben. Denn die Risse und Verdrängungen in Madrid ziehen sich längst auch durch das Leben der Menschen – und Ana hat genug davon. Sie bricht die Schule ab, zieht in ein besetztes Haus und sagt den Verhältnissen den Kampf an. Ihre Eltern treibt das in die Verzweiflung, sie beauftragen einen Privatdetektiv, um die immer mehr in den Aktivismus gleitende Tochter zurückzuholen.

Die in Rückblenden erzählte Handlung pendelt zwischen dem bürgerlichen Randdasein von Aitor und der linksextremen Welt von Ana hin und her. Wie eine Kamera pflügt die Handlung durch die spanische Gegenwart, nimmt Gentrifizierung, Prekarität und Obdachlosigkeit, den Zusammenbruch der bürgerlichen Illusionen und das provokante Niederreißen sämtlicher Grenzen durch den linken Aktivismus in den Blick. Wenngleich die Charaktere dabei etwas hölzern wirken, fängt dieser Roman aber eine Stimmung am Siedepunkt ein, die man auch hierzulande wahrnehmen kann, wenn man sich umschaut.


Sara Mesa: Eine Liebe. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Wagenbach Verlag 2022. 192 Seiten. 23 Euro. Hier bestellen.

Ganz anders verhält es sich mit Sara Mesas Roman »Eine Liebe«, der im vergangenen Jahr mit dem Preis des unabhängigen spanischen Buchhandels ausgezeichnet wurde. 1976 in Sevilla geboren, ist die preisgekrönte Autorin nicht mehr Teil der jungen Avantgarde. Wie schon in ihrem letzten Roman »Quasi« erzählt sie hier eine aufwühlende Geschichte, die Grenzen überschreitet und einem den Boden unter den Füßen wegzieht.

Nat zieht kurzentschlossen in ein kleines Dorf, nachdem sie im Büro etwas Wertvolles geklaut und schuldbewusst zurückgegeben hat. Unter der Sonne von Südspanien will sie neu anfangen. Morgens will sie im Garten werkeln und nachmittags französische Literatur übersetzen. Aber vom ersten Moment an läuft es nicht wie vorgestellt. Das Haus, in das sie einzieht, ist heruntergekommener, als sie es in Erinnerung hat, ihr aufdringlicher Vermieter interessiert sich für alles, nur nicht dafür. Also muss sie es sich selbst wohnlich machen, schrubbt die Böden, räumt den Garten auf. Als es eines Tages durch die Decke regnet, macht ihr ein Nachbar, den alle nur »der Deutsche« nennen, ein unmoralisches Angebot. »Ich kann dir das Dach reparieren, und dafür lässt du mich ein Weilchen in dich rein.«

Mesas Roman lebt von seiner Doppelbödigkeit und beklemmenden Atmosphäre. Alles in diesem Dorf – seine eigenwilligen Bewohner, die freilaufenden Hunde, die flirrende Hitze – sorgt für ein um sich greifendes Unbehagen. Es herrscht eine seltsame Unbehaustheit und Kälte, die allem Unbekannten und Fremden mit Ablehnung begegnet. Dies spiegelt sich auch in der knappen Sprache, die in der Übersetzung von Peter Kultzen jedes schmückende Detail auslässt, um sich – das karge Leben spiegelnd – auf das Wesentliche zu beschränken. Zugleich tun sich hinter den sprachlichen Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen wahre Abgründe auf, die Nats Existenz und Sichtweise in ihren Grundfesten erschüttern.


Elena Medel: Die Wunder. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag 2022. 221 Seiten. 23 Euro. Hier bestellen.

Im Debütroman der Lyrikerin Elena Medel gehen zwei Frauen den umgekehrten Weg. Sie verlassen die Provinz und gehen nach Madrid, um dort ihr Glück zu suchen. Dabei trennen die Schicksale von María und Alicia fast ein halbes Jahrhundert. Marías Tochter Carmen ist Alicias Mutter, María musste sie Ende der Sechziger in Cordoba zurücklassen, als sie als junge Frau nach Madrid ging, um den Unterhalt ihrer Tochter zu verdienen. Dort gehörte sie zu jenen Unsichtbaren, die man nicht nach ihrem Namen ruft, »sondern nach der Wohnung, in der sie putzen, abwaschen, kochen« und die »verschwinden, als hätten sie nie existiert«.

Ein halbes Jahrhundert später flieht ihre Enkelin nach Madrid, um dem Selbstmord ihres Vaters zu entkommen. In ihrem Leben wiederholen sich die Muster des prekären Daseins ihrer Großmutter unter anderen Vorzeichen. »Ich beneide die, denen es gut geht, und mich trösten die, denen es schlecht geht, denn durch sie fühle ich mich nicht so allein«, gesteht sie. Und während Alicia ihr Leben immer mehr entgleitet, geht María in einem anderen Viertel von Madrid für soziale Gerechtigkeit und Emanzipation auf die Straße.

Für ihren poetischen Roman »Die Wunder« erhielt die 1985 geborene Lyrikerin Elena Medel als erste Frau den prestigeträchtigen Premio Francisco Umbral. Im Wechsel erzählt sie die aufeinander zulaufenden Schicksalsgeschichten ihrer beiden Heldinnen. Sie verbindet dabei die tristen Jahre nach der Franco-Ära mit der von sozialer Ungleichheit geprägten Gegenwart. Dabei zeigt sie, wie sich der Mangel an Geld auf Körper und Seele ihrer weiblichen Figuren legt, die Tag für Tag ums Überleben kämpfen, während sich ihre Männer in Bars am Bier festhalten.


Almudena Grandes: Die drei Hochzeiten von Manolita. Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda. Hanser Verlag 2022. 672 Seiten. 30 Euro. Hier bestellen.

In die spanische Geschichte taucht seit Jahren Almudena Grandes ab. Aus ihrem auf sechs Bände angelegten Zyklus »Episoden aus einem endlosen Krieg« ist nun Teil drei in der Übersetzung von Roberto de Hollanda erschienen. »Die drei Hochzeiten von Manolito« folgt der kommunistischen Romantisierung, die den Zyklus der prägt.

Ihre Hauptfigur Manolita wird dabei zu einer Oppositionellen wider Willen, die ihre von Franco inhaftierten Eltern mit Informationen im Gefängnis versorgen muss. Dazu dient ihr der nicht allzu attraktive Silverio, den sie dem Titel zufolge dreimal heiratet. Oder doch nicht? Dies ist eine der Fragen, der der überbordende Roman folgt. Auf alle Fälle stehen hier die Unterdrückten und Geknechteten allzu positiv im Licht der Handlung, die Rollen von Gut und Böse sind zu simpel verteilt.


Javier Marías: Tomás Nevinson. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag 2022. 736 Seiten. 32 Euro. Hier bestellen.

Das trifft mit Einschränkungen auch auf den letzten Roman von Javier Marías zu, der vor wenigen Wochen gestorben ist. Mit »Tomás Nevinson« legt der bedeutendste spanische Gegenwartsautor noch einmal ein voluminöses Werk vor, das an seinen Roman »Berta Isla« anschließt. Bertas Gatte gibt dem neuen, von Susanne Lange elegant ins Deutsche übersetzten Roman, seinen Titel. Zurück in Madrid soll der Geheimagent in einer spanischen Kleinstadt eine Terroristin liquidieren.

Der Roman taucht tief in die Verhältnisse der 80er und 90er Jahre ein – Korruption, Sexismus und Machismo bilden die undurchdringliche Atmosphäre, die über der Kleinstadt liegt, in der sich Nevinson auf die Suche nach seiner Zielperson macht. Dort trifft er nicht auf Terroristen, sondern auf Menschen, was das Ganze nicht ganz einfach macht und dazu führt, dass er sich in seinen Gefühlen verrennt. So kippt dieser Geheimdienstroman in den Roman einer Ehe, bei dem Leser:innen mit Anspielungen auf Shakespeare, Baudelaire oder Yeats in grundsätzliche Fragen des Lebens abtauchen.


Enrique Vila-Matas: Mac und sein Zwiespalt. Aus dem Spanischen übersetzt von Petra Strien-Bourmer. Wallstein Verlag 2022. 308 Seiten. 25 Euro. Hier bestellen.

Jens Jessen attestierte der spanischen Literatur in der ZEIT eine Verhangenheit in den Traditionen, sie stecke zwischen »manieriertem Wortgeklingel« und »scharfer Verknappung« fest. Eine eigenwillige Lesart, aber gut. Man hätte Jessen unter anderem auch die Lektüre von Enrique Vilas-Matas Roman »Mac und sein Zwiespalt« empfohlen, dessen englische Übersetzung 2020 auf der Longlist für den International Booker Prize stand.

Der von Petra Strien-Bourmer souverän ins Deutsche übersetzte, surreal anmutende Meta-Roman befasst sich mit dem Schreiben selbst, dessen Autor sich gegen das Verfassen des Buches sträubt, das wir in den Händen halten. Denn er ist, wie wir schon im ersten Satz erfahren, »fasziniert von der Gattung posthumer Bücher«, die in ihrer Unabgeschlossenheit einen genialischen Geist ausstrahlen.

In Gesprächen mit seinen Nachbarn, einen erfolgreichen Autor, stößt Mac auf den Roman eines Bauchredners, den er neu liest und dabei völlig in der Sprache versinkt. Was Fakt und Fantasie ist, ist längst nicht mehr herauszufinden, genauso wie die Grenze zwischen der Handlung im Roman und der Handlung des Lesens dieses Romans zunehmend verschwimmt. Wer also Weltflucht sucht, findet hier Erfüllung.


Cristina Morales: Leichte Sprache. Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern. Matthes & Seitz Berlin 2022. 409 Seiten. 25 Euro. Hier bestellen.

Das kann man Cristinas Morales’ Roman »Leichte Sprache« nicht vorwerfen, zumal er ein vollkommen anderes, geradezu revolutionäres Programm des Realismus in unseren Köpfen installiert. In dem Roman kämpfen Nati, Marga, Àngels und Patri um eine Existenz in Freiheit und Würde. Diese vier außergewöhnlichen Heldinnen leben in einer betreuten Wohngruppe in Barcelona, angeblich sind sie kognitiv beeinträchtigt. Dafür verstehen sie ihre Entmündigung allerdings ziemlich gut. Denn je länger man liest, desto mehr beschleicht einen das Gefühl, dass hier vielleicht auch einfach nur ein paar unbequeme Charaktere mit repressiven Mitteln ruhiggestellt werden sollen. Die aber lassen das nicht mit sich machen, gewitzt und entschlossen setzen sie sich gegen sie zur Wehr. Jede erhebt für sich das Wort: Nati in einem inklusiven Tanzkurs, in dem sie offensichtliche Wahrheiten ausspricht, Marga im Kreis einer linken Aktivist:innengruppe, die Häuser besetzt, Àngels als Autorin eines WhatsApp-Romans und Patricia im Zuge einer Gerichtsverhandlung, bei der es darum geht, die promiskuitive Marga »zu ihrem eigenen Schutz« zu sterilisieren.

Mit derlei »wohlgemeinter« Entmündigung sind die vier Frauen ständig konfrontiert. Entschlossen, nein radikal weisen sie dies zurück, indem sie sich mit allen Mitteln gegen die restriktiven Unterdrückungssysteme auflehnen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. In diesem umwerfenden (Mani)Fest weiblicher Selbstbehauptung entblößen Morales weiblche Charaktere vielstimmig das machistische Unterdrückungssystem, dem sie (und die Gesellschaft) ausgesetzt sind.

Morales, ebenfalls Jahrgang 1985, erhielt für den Roman als jüngste Autorin den Premio Nacional de Narrativa des spanischen Kulturministeriums. Im Juni gewann sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Friederike von Criegern für diese »Liebeserklärung an die Politisierung, aber auch an den Tanz und an das Begehren« den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. Die Konsequenz, mit Autorin und Übersetzerin der durchaus leichten, aber niemals simplen Sprache ihrer Heldinnen eine vieldeutige Wirkmächtigkeit verleihen, ist wahrlich bewundernswert.

Morales Roman ist gigantisch, ein alle Vorurteile und Klischees umwerfender Text, der sich mal in Leichter Sprache, dann in Form von Gesprächs- und Gerichtsprotokollen oder als linksalternatives Fanzine gegen jede Art machtpolitischer Tendenzen auflehnt. In spielerischer Leichtigkeit werden gesellschaftspolitische Themen wie Partizipation, Inklusion und (sexuelle) Selbstbestimmung in die Luft geworfen, um deren machtpolitischen Missbrauch zugunsten einer wie auch immer gearteten »Normalität« aufzuzeigen. Dabei werden nicht nur die entmündigenden Strukturen aufgezeigt, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen leben, sondern auch die soziale Misere und der Ausverkauf der Stadt verhandelt.


Isaac Rosa: Im dunklen Zimmer. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Liebeskind Verlag 2022. 296 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.

Der Ausverkauf der Werte spielt auch in Isaac Rosas Roman »Im dunklen Zimmer«, tadellos übersetzt von Luis Ruby, eine wesentliche Rolle. Dabei ist der titelgebende Raum zunächst als gemeinsames Ladenlokal eines Freundeskreises gedacht, das mal als Arbeitsplatz, mal als Werkstatt oder als Partykeller genutzt wird. Eines Tages kippt das gesellige Beisammensein in eine Swingerparty. In Folge bröckeln die Sicherheiten der Verhältnisse – nicht nur im persönlichen Miteinander der Freunde, sondern auch in der Gesellschaft, die sie umgibt. Immer tiefer führt die Krise in die dunklen Verließe des Daseins, da, wo Vereinsamung, Missgunst und Gier wohnen und sich jede:r selbst die:der Nächste ist.

Die (Rück)Eroberung der Hoheit über das eigene Leben, den eigenen Körper und die eigene Sexualität und die Bedeutung sozialer Klassen prägen vor allem die junge feministische Literatur Spaniens. Sie ist vielseitig, preisgekrönt und dank starker Übersetzungen oft auch sprachgewaltig. Mal kommt sie auf den leisen Sohlen der Poesie daher, dann wieder rollt sie über einen hinweg wie eine gigantische Welle. Sie verzichtet auf romantische Hoffnungs- und Erlösungsfantasien, taucht stattdessen tief ein in die Gegenwart, die Frauen immer wieder zur Verzweiflung bringt.

»Fickt Euch doch alle!«, bringt daher die Haltung, die in dieser Literatur mitschwingt, durchaus auf den Punkt. Wer sich daran stört, dem sei mit den Worten von Alicia gesagt: »Was hast du erwartet, großes Kino und ein Happyend? Das Leben sieht anders aus.«

3 Kommentare

  1. […] Wie aber vergessen, wenn sich die Geschichte in jede Familie einschreibt? Und wäre aus der Geschichte lernen nicht viel besser, als sie zu vergessen? Solche Fragen stellen sich unterschwellig beim Lesen der Geschichten der drei Frauen ein. Wenngleich sich das als nicht so leicht erweist, weil Perspektiven und Zeiten permanent wechseln. So braucht man eine Weile, bis man sich in diesen Erzählstrom einhört, der sich aus den Quellen der drei Lebensgeschichten speist, die sich zu einer universalen Geschichte über die Position der Frauen in Barcelona im 20. Jahrhundert vereinen. Darin klingt auch der feministische Furor an, auf den man auch in Cristina Morales Roman »Leichte S… […]

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