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Bis 1946 lebten in 6.401 Notwohnungen 20.502 Menschen

Baracken entstanden nach dem Bombenangriff auf Remscheid am 31. Juli 1943 fast überall in der Stadt. Man nannte diese Billigkonstruktion Behelfsheime. Sie waren von bescheide­nem Zuschnitt, hatten ein Pultdach - damit der häufige Remscheider Regen ablaufen konnte - und den Spitznamen »Ley-Hütten«, nach dem Organisationsleiter der Nazi-Partei, Robert Ley benannt. Außerdem wurden Bunker, Lagerräume und notdürftig abgedeckte Keller als Wohnungen genutzt. Bis in die Nachkriegszeit hinein, genauer bis November 1946, lebten in 6.401 Notwohnungen noch 20.502 Personen.

Erstaunlich genug, dass schon kurz nach dem Bombenangriff vom 31. Juli 1943 wieder Zeitungen erscheinen. Soweit diese von auswärts kommen, lässt es sich leicht erklären, aber auch der »Remscheider General-Anzei­ger«, dessen Haus zerstört war, ist schon am 2. August 1943 wieder in der Hand seiner Leser. Beim »Solinger Tageblatt«, das in einer damals noch unzerstörten Stadt entsteht, hat der RGA sein Ausweichquartier gefunden. Parallel dazu begannen in Remscheid Aufräum- und Aus­bauarbeiten, die so zielstrebig vorangetrieben wurden, dass 1944, als Solingen zerstört und das »Solinger Tageblatt« bei dieser Gelegenheit ausgebombt wurde, die Remscheider Zeitungsmacher nun ihrerseits Gastgeber sein konnten.

Das Leben im zerstörten Remscheid war, wie rings im Lande, von Entbehrungen gekennzeichnet. Die Zeit der Hamsterfahrten begann, abenteuerliche Expeditionen gegen den Hunger. Tausende reisten, trotz bestehender Verbote, über Land, vom Kriegsgeschehen mehr und mehr bedroht, von Tieffliegerangriffen und den immer rabiater werdenden Zugriffen der Gestapo. Sie wollten zum »Reichsnährstand«, zu den Bauern, um bei diesen Nahrungsmittel zu ergattern. Dafür tauschten sie alles ein, was ihnen der Krieg und die Bezugscheinwirtschaft noch gelassen hatten. An den Wänden drohten Plakate: »Pst, Feind hört mit!« Sie richteten sich gegen jede Preisgabe eines noch so kleinen kriegswichtigen Geheimnisses. »Kohlenklau« versuchte mit seiner Schattengestalt und dem geschulterten Kohlensack ins Unterbewusstsein des Volkes einzudringen. Ihn ließen die Machthaber gegen Energieverschwendung kämpfen. Und zum Fürchten waren auch die Warnungen vor dem Abhören von sogenannten »Feindsendern«!

Der Krieg, der längst fast alle wehrfähigen Männer abgezo­gen hatte - die Waffenbauer einmal ausgenommen -, griff jetzt auch nach Jugendlichen. Sie wurden Flakhelfer, kaum 15 Jahre alt. Der Bund Deutscher Mädel (BDM) stellte Nachrichtenhelferinnen. Goebbels' totaler Krieg ließ jetzt so gut wie niemanden mehr aus.

Zwar findet noch eine Begabten-Förderung an den Höheren Schulen statt, aber dann werden im Herbst 1944 die Luftangriffe so zahlreich und unberechenbar, dass die Schu­len nach und nach den Unterricht einstellen und damit auch einer solchen Maßnahme den Boden entziehen müssen. Diejenigen Schüler, die sich zu diesem Zeitpunkt zu den Oberstufenklassen der Gymnasien zählen dürfen, werden nach dem Krieg ihr Abitur in Sonderlehrgängen nachholen. Jetzt aber haben sie schulfrei, fürs Schießen und oft genug fürs Sterben.

Der Autor der Remscheider Plauderei und langjährige Feuilleton-Chef des »Remscheider General-Anzeigers«, Alfons Claeßen, hält es in diesen Tagen für angezeigt, nicht mehr die Heldenepen der braunen Ära zu preisen, sondern an Heinz Rühmanns Schulzeit zu erinnern, die der in Essen Gebürtige zum Teil in Lennep verbrachte. Kurz nach der Jahreswende zum letzten Kriegsabschnitt 1945 erscheinen die Zeitungen dreimal wöchentlich mit vier Seiten. An den anderen drei Tagen haben sie nur noch zwei Seiten Umfang. Papiermangel.

Fast täglich kommen nun die Tiefflieger. Sie haben es besonders auf Lennep abgesehen, den bis dahin verschont gebliebenen Ort. Lennep ist ein wichtiger Eisenbahnknoten­punkt und darum vorrangiges Ziel. Nach und nach sinkt das Empfangsgebäude des Bahnhofs in Schutt und Asche. Auch die Gleisanlagen und Bahnsteige werden immer wieder schwer beschädigt. Die gegenüberlie­gende Post bleibt nicht verschont. Der schwerste Schlag aber trifft Lennep am 10. März 1945, als ein Bombenteppich die schmucke Neustadt in einen Trümmerhaufen verwandelt. Aus wenigen Kilometern Entfernung hört sich dieses Bom­bardement wie ein kurzes, bedrohliches Donnergrollen an, dem eine Stille folgt, in der das Geräusch davonfliegender Maschinen besonders deutlich hörbar wird. Wieder hat es vornehmlich die Zivilbevölkerung getroffen. Ganze Häuser­zeilen sind niedergelegt, 27 Männer, 25 Frauen und neun Kinder sterben. Die Industrieanlagen bleiben weithin verschont.

Die Jabos, wie man damals die tieffliegenden Jagdbomber nannte, beherrschten von nun an das Feld. Bisweilen schien es, als machten die Besatzungen dieser Maschinen Jagd auf alles, was sich am Boden bewegte. Kein Briefträger auf dem Fahrrad, keine Großmutter oder Mutter, die einen Kinder­wagen eine Chaussee entlang schob, war mehr sicher. Der Krieg hatte seine Handwerker entfesselt. Sie reihten den vielen Sinnlosigkeiten dieser Jahre täglich neue an.

Die Bevölkerung verließ die Luftschutzräume kaum noch. Nicht einmal in Lennep, auf das sich die Angriffe feindlicher Flugzeuge konzentrierten, war noch an Arbeit zu denken, selbst wenn dort intakte Fertigungsstätten standen. Wenn Alarm gegeben wurde - und dies geschah jetzt viele Male am Tag - hastete ein Zug angstvoller Menschen zu den Luft­schutzräumen. Hauptziele waren die Bunker am Kraspütt und die Stollen an der Schwelmer Straße.

In Lüttringhausen war unter dem Heimatspielgelände ein Bunker entstanden. Lebensnotwendige Einkäufe waren nur noch unter großen Gefahren möglich. Landwirtschaftliche Arbeiten mussten eingestellt werden. Auch wenn der Rundfunk nach wie vor Durchhalteparolen übermittelte, die Zeitungen pflichtschuldigst vom Endsieg faselten, wusste doch inzwischen jeder, was die Stunde geschlagen hatte.

Die vom Kriegseinsatz verschont gebliebenen Männer muss­ten sich für den Volkssturm bereithalten, desolate, halbuni­formierte Elendstruppen, die von Parteiwürdenträgern kommandiert und im Umgang mit Panzerfäusten und ähnli­chem Schreckensgerät abgerichtet wurden. Hier und dort sah man sie, ungläubiges Staunen über so viel Irrsinn auf den Gesichtern, Gräben ausheben und geradezu rührende Pan­zersperren bauen, die leisten sollten, was Atlantikwall und Westwall nicht vermochten: eine moderne Kriegsmaschine­rie aufhalten. . (aus: „Remscheid so wie es war 2“, von Dr. Gerd Courts, erschienen im Droste Verlag, Düsseldorf, im Jahre 1978.)

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