Cradle to Cradle – ein konsequenter Ansatz der Kreislaufwirtschaft?

von | 2021, Januar | Nachhaltige Medien

Papier gehört auf den Kompost? Bildquelle: Guido Rochus Schmidt, UmDEX.
Cradle to Cradle (C2C) bedeutet sinngemäß „vom Ursprung zum Ursprung“. Es gilt als Ansatz für eine konsequente Kreislaufwirtschaft mit dem Ziel, den Idealfall des Recyclings zu erreichen: Alle eingesetzten Rohstoffe bzw. Bauteile sollen am Ende des Lebenszyklus eines Produkts wieder vollständig und gleichwertig in den Produktionsprozess oder Biokreislauf zurückgeführt werden können.

Entwickelt wurde dieser philosophische Ansatz Ende der 1990er Jahre von dem deutschen Chemiker Michael Braungart und dem US-amerikanischen Architekten William McDonough. Cradle-to-Cradle-Produkte sollen demnach entweder als biologische Nährstoffe in biologische Kreisläufe zurückgeführt oder als „technische Nährstoffe“ kontinuierlich in technischen Kreisläufen gehalten werden. Eine C2C-Zertifizierung (Cradle-to-cradle certified-Produktstandard) wird seit 2010 vom Non Profit-Institut Cradle to Cradle Products Innovation Institute mit Sitz in San Francisco (USA) verliehen.

Bewertet werden dabei fünf Kriterien: Materialgesundheit, Kreislauffähigkeit, Einsatz erneuerbarer Energien, verantwortungsvoller Umgang mit der Ressource Wasser sowie soziale Gerechtigkeit. Innerhalb dieser Kriterien werden fünf Zertifizierungsgrade vergeben: Basic, Bronze, Silber, Gold und Platin. Die vergebenen Siegel müssen alle zwei Jahre erneuert werden.

Seit einiger Zeit hat diese Philosophie der Kreislaufwirtschaft auch die Druckbranche erreicht. Es kursieren verheißungsvolle Vorstellungen, man könne auch Druckprodukte nach dem Gebrauch bequem kompostieren und somit nicht nur einen technischen sondern darüber hinaus auch einen biologischen Kreislauf schließen.

Ingede, Recycling, Cradle-to-Cradle

Farbenrausch nur auf dem Papier und nicht im Kompost, Bildquelle: Pixabay

INGEDE – Strategen für nachhaltiges Deinking

Die Internationale Forschungsgemeinschaft Deinking-Technik e.V., INGEDE, wurde 1989 von führenden europäischen Papierherstellern als Interessenvertretung für Unternehmen der Papierindustrie gegründet, die Altpapier zur Herstellung neuer grafischer Papiere einsetzen.

Seit der Gründung entwickelte sich INGEDE bis heute konsequent zu einem europäischen Expertenverband für Deinking-Technologie und Recyclingfähigkeit von grafischen Druckerzeugnissen. Heute konzentriert sich die Interessengemeinschaft auf die Forschung und unterstützt die freiwillige Erklärung europäischer Papierkettenverbände mit ehrgeizigen Recyclingraten in Europa.

INGEDE zielt darauf ab, die Verwendung von grafischem Altpapier (Zeitungspapier, Zeitschriften und Büropapier) zu fördern und die Bedingungen für einen erweiterten Einsatz von Altpapier für die Herstellung von Grafik- und Hygienepapieren zu verbessern. Derzeit sind über 30 europäische Deinking-Papierfabriken und Forschungsabteilungen Mitglieder und Partner von INGEDE, die zusammen annähernd sieben Millionen Tonnen grafisches Altpapier einsetzen.

Bis heute hat INGEDE mehr als 6 Millionen Euro für Forschungsprojekte ausgegeben, hat Ländervertreter in jedem europäischen Land, die Kontakt zu den Mitgliedern der Papierkette in der jeweiligen Region halten und bei Fragen unterstützen.

Interview mit Axel Fischer, Chemiker und Pressesprecher der INGEDE

Ob das Prinzip der Zirkularität, wonach Produkte und Materialien so lange wie möglich zu verwenden sind, ohne dass sie ihren Wert verlieren, auch bei eher schnelllebigen Druckprodukten realistisch umsetzbar ist, darüber kursieren unterschiedliche Meinungen. Um Fragen zu diesem Thema grundsätzlich zu klären, haben wir den Pressesprecher der INGEDE, Herrn Axel Fischer, zu einem Interview eingeladen.

Axel Fischer im Interview mit umdex.de-Redakteur Gudio Rochus Schmidt.

Interview: Guido Rochus Schmidt

In einer hübschen Animation mit dem Titel „So würde die Natur drucken“, herausgegeben von der österreichischen Druckerei Gugler, wird dargestellt, wie der Kreislauf von Druckprodukten nach dem Cradle to Cradle -Prinzip von statten geht.
Zuerst wird aus einem Baum Zellstoff zur Papierproduktion gewonnen. Dann wird das Papier in einer Druckmaschine bedruckt. Nach Gebrauch wirft der Leser einen Teil des Druckproduktes auf den Kompost, ein weiterer Teil kommt ins Recycling und ein Rest wird verbrannt. Daraus entstehen schließlich Biomasse, Schlamm und Asche, die als Dünger und Humus den Bäumen als Nahrung dienen und somit wieder als Zellstofflieferanten für neues Papier zur Verfügung stehen.

Axel Fischer: In dieser Animation wird mit bewusst falschen Angaben das Papierrecycling verteufelt und von „40 Prozent mehr oder weniger giftigem Schlamm“ gesprochen, die beim Deinking entstehen sollen. So etwas nennt man heute „Fake News“.

Papier verrottet meines Wissens in einem Zeitraum von etwa 3 bis 5 Jahren. Worin besteht der Sinn des Kompostierens von bedrucktem Papier?

Axel Fischer: Darin sehe ich überhaupt keinen Sinn. Welche Druckerei vergräbt ihre Makulatur hinter dem Haus, wer kompostiert seine alten Bücher? In Europa wurden im vergangen Jahr 72 Prozent des Papiers recycelt (diese sogenannte Recyclingquote bezieht sich auf den gesamten Papier-, Pappe- und Kartonverbrauch), in Deutschland sogar 78 Prozent, und dafür muss sich ein Druckprodukt qualifizieren: Es muss optimal rezyklierbar sein, nicht kompostierbar oder essbar. Als zusätzliche Eigenschaft ist das ja völlig in Ordnung, es darf aber nicht zum Alibi für fehlende Rezyklierbarkeit herangezogen werden, wie wir es aktuell bei einigen Druckfarben sehen.

Vertreter von Cradle to Cradle, wie etwa die Berliner Cradle to Cradle NGO, betonen, dass Papier den Recyclingprozess maximal 7 bis 10 Mal durchlaufen kann, bis die Papierfasern für einen weiteren Gebrauch zu kurz sind. Aus C2C-Perspektive gilt dies als eine Nutzungskaskade mit abnehmender Wertschöpfung, die in einem biologischen Kreislauf zur Zellstofferzeugung enden muss, da sonst das Angebot von Altpapier als Wertstoff nicht mehr ausreicht, um die ständig wachsende Nachfrage zu befriedigen. Wie hoch müsste denn der Frischfaseranteil sein, damit weiterhin genügend Altpapier für einen Recyclingprozess zur Verfügung steht?

Axel Fischer: Das klingt tatsächlich eher philosophisch als rational begründet. Bei den derzeitigen Recyclingquoten hat eine Papierfaser theoretisch etwas mehr als drei Leben. Man darf sich das auch nicht so vorstellen, dass in ein paar Jahren plötzlich alle Fasern auf einmal zu kurz sind und das Papier zerfällt. Hintergrund ist vielmehr, dass bei mechanischer Beanspruchung ab und zu ein Stückchen von einer Faser abbrechen kann, das wird dann als sogenannter Feinstoff beim Deinken, dem Entfernen der Druckfarbe, zusammen mit den Farbpartikeln ausgeschwemmt oder durch die Siebe gespült. Derzeit kommt genügend Frischfaser in den Kreislauf, damit dieser stabil immer weiterläuft. Deshalb ist ja auch ein gesundes Nebeneinander von neuem und recyceltem Papier wichtig und sinnvoll.

Einige Druckfarbenhersteller haben nun ein Farbsortiment entwickelt, das nach den Standards von Cradle to Cradle geprüft und freigegeben wurde. Um diese Zertifizierung zu erhalten, bewertete das von Prof. Dr. Michael Braungart gegründete, unabhängige Umweltinstitut EPEA die Herstellungsprozesse der Druckfarbe.
Die bewerteten Druckfarben basieren auf nachwachsenden Pflanzenölen, sind Kobalt-frei rezeptiert und erfüllen das Kriterium zur Deinkbarkeit gemäß der INGEDE-Methode 11 sowie den Vorgaben des Europäischen Altpapierrates (EPRC). Das Portfolio umfasst Skalen- und Sonderfarben für den konventionellen Offsetdruck.
Welche Anforderungen stellt die Prüfung nach der INGEDE-Methode 11 generell an die Deinkbarkeit von Druckprodukten?

Axel Fischer: Deinkbar heißt, die Druckfarben müssen sich in einem Labortest von den Fasern ablösen und aus der Fasersuppe entfernen lassen. Es ist mir neu, dass Cradle-to-Cradle-zertifizierte Druckfarben nach der INGEDE-Methode deinkbar sein sollten. Das Gegenteil ist der Fall: Bisher wurden etliche Druckfarben, die gerade nicht deinkbar sind und sich deshalb gerade nicht für Druckprodukte mit einem Blauen Engel eignen, für Cradle to Cradle angemeldet, um wenigstens irgendein Umweltzeichen zu haben. Ich sehe das als Ablasshandel, weil die Kriterien und die Bewertung nicht transparent sind. C2C ist auch kein dem Typ I der entsprechenden ISO-Norm konformes Umweltzeichen wie der Blaue Engel oder das EU Ecolabel. Alle von Ihnen genannten Anforderungen sind nichts Besonderes – es gibt natürlich Pflanzenölfarben, die frei sind von Kobalt und Schwermetallen und die deinkbar sind – und damit die transparenten Kriterien des viel strengeren Blauen Engel erfüllen.

Wie müsste Druckfarbe beschaffen sein, damit sie auch kompostierbar wird?

Axel Fischer: Das kann ich nicht bewerten, vermutlich ist das einfacher zu bewerkstelligen als die Deinkbarkeit, allerdings ist das in der Praxis meiner Ansicht nach irrelevant.

Cradle to Cradle wirbt damit, dass die Schlämme, die beim Deinking von C2C-zertifizierten Druckfarben anfallen, nicht giftig sind und somit als Dünger benutzbar. Welche Schadstoffe sind denn nach dem Deinking-Prozess von herkömmlichen Druckfarben im Schlamm enthalten?

Axel Fischer: Ich könnte mir vorstellen, dass aus alten Druckerzeugnissen noch das eine oder andere Schwermetall eingetragen wird, das heute längst auf der Ausschlussliste der europäischen Druckfarbenhersteller steht (Pigmente und andere Verbindungen, basierend auf Antimon, Arsen, Cadmium, Chrom(VI), Blei, Quecksilber, Selen). Oder Kupfer aus blauen Pigmenten – das ist in geringen Mengen ein lebensnotwendiges Spurenelement, in höherer Dosis gilt es als toxisches Schwermetall. Deinkingschlämme werden aber nicht kompostiert, insofern ist das irrelevant, lenkt vom eigentlichen Problem ab, also Greenwashing wie es im Buche steht.

Meines Wissens werden mittlerweile doch fast alle Druckfarben ohne Kobalt formuliert. Wodurch unterscheidet sich also der Cradle to Cradle-Schlamm vom herkömmlichen Deinking-Schlamm?

Axel Fischer: Schon der Gedanke ist absurd. Es gibt keinen Cradle-to-Cradle-Schlamm, da diese Farben ja bisher mehrheitlich gar nicht deinkbar sind und deshalb für ein hochwertiges Papierrecycling gar nicht geeignet wären, selbst wenn man alle C2C-Drucke separat erfassen würde.

Vertreter von Cradle to Cradle betonen, dass an diesem Wirtschaftsprinzip kein Weg mehr vorbeiführe, für keinen Industriezweig. Begründet wird das damit, dass sich der Mensch nicht einschränken könne. Folgerichtig müsse man ihm die Möglichkeit geben, auch in Zukunft so ausladend leben zu können wie heute, allerdings ohne Schaden anzurichten! Cradle to Cradle bietet dazu eine Möglichkeit. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Axel Fischer: Ich halte das in Bezug auf Papier und Druckfarben für Unsinn. Schlimmstes Beispiel für mich ist die C2C-Zertifizierung von Steinfolie, das ist eine Mischung aus Gesteinsmehl und Plastik, die als „Rock Paper“ beworben wird, aber keine einzige Faser enthält. Das ist allenfalls mit Bauschutt zu entsorgen. Hier sehe ich weder einen technischen noch einen biologischen Kreislauf wie von den C2C-Protagonisten propagiert.

Insgesamt mag C2C ein guter Ansatz sein bei Fernsehern oder Fahrrädern – bei Druckprodukten nicht. Hier sehe ich eher die Gefahr, dass Bücher oder Zeitschriften mit dem Label wegen der schlechter rezyklierbaren Farben tatsächlich weniger umweltverträglich werden. Ein Bärendienst für die Umwelt.

Herr Fischer, ich danke Ihnen für dieses informative Gespräch!

Axel Fischer: Ich bedanke mich für Ihr Interesse!

Für weitere Informationen zum Altpapier-Recycling und dem korrekten Deinking von Druckfarben empfiehlt die UmDEX-Redaktion die Seite von INGEDE. Dort findet sich eine große Auswahl an Artikeln rund um dieses Thema.

Guido Rochus Schmidt

Guido Rochus Schmidt

Autor, Umweltexperte, Fachtexter

Guido Rochus Schmidt war von 1979 bis 2013 Geschäftsführer der Ulenspiegel Druck GmbH, einer der bis heute nachhaltigsten Medien- und Druckdienstleister in Europa, bereits seit 1999 nach Verordnung der Europäischen Union mit EMAS zertifiziert. Als Umweltexperte betreute er von 1999 bis 2017 die ökologische Fortentwicklung des Unternehmens.

Seit 2017 berät der Experte Unternehmen bei allen Fragen der Nachhaltigen Medienproduktion.

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