Strange New World

 

In Krisenzeiten haben auch immer Untergangspropheten und Kristallkugel-Experten Hochkonjunktur, das ist nichts neues. Mega-Crashes werden heraufbeschworen, der Niedergang der USA als globale Führungsmacht, das Ende des Kapitalismus oder der Welt, wie wir sie kennen, prognostiziert. Abseits dessen reiben sich Autokraten und solche, die es gerne einmal werden möchten, die Hände, da ihre Wächter zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um ihre Machenschaften auch nur eines Blickes zu würdigen. Abseits der Medienaufmerksamkeit geschehen – wie so oft – aber auch in Demokratien krude Machenschaften.

In zahlreichen westlichen Demokratien scheint es zu einem „rally ’round the flag“- Effekt zu kommen. Die Zustimmungswerte der Regierenden steigen, ihre Stunde hat jetzt geschlagen, die Oppositionsparteien müssen sich mit ihren Vorschlägen hinten anstellen, egal wie sinnvoll diese sein mögen. Hierzulande kommt es der Bundesregierung zugute, dass die sonst so unangenehmen Themen wie Flüchtlinge, Klima und drohende Rezession vorerst unter den Tisch fallen. Die Union konnte vor Corona schon den Atem der Grünen im Nacken spüren, deren Umfragewerte im Zuge der Klimadebatte ungeahnte Höhen erreichten. Jetzt aber liegen CDU und CSU in den Umfragen wieder deutlich vorne. So oft Robert Habeck auch im legeren Outfit aus dem Homeoffice livestreamt, so wirklich Kapital scheint seine Partei aus der momentanen Situation nicht schlagen zu können. Selbst die Werte der geschundenen SPD scheinen sich wieder etwas zu erholen. Die Regierungskoalition atmet auf. Endlich erlöst von dem Zwang, glaubwürdige Antworten auf Klimafragen zu liefern, einem zunehmend aufmüpfigen Erdogan die Stirn zu bieten, zu erklären, wie man sich das mit den Flüchtlingen eigentlich vorgestellt hat und in Zukunft vorstellt, und wenigstens vorübergehend befreit von dem Zwang, das Land zukunftsfest zu machen. Politischer Profit aus dem „Panikmodus“. Dabei wäre es auch anders gegangen und ginge es auch immer noch. Wie es geht, machen Länder wie beispielsweise Südkorea vor. Flächendeckende Tests, wie sie dort an der Tagesordnung sind, bleiben hier jedoch feuchter Traum medizinischer Experten. Währenddessen ist bei uns die Begründung „wegen Corona“ zur politischen Allzweckwaffe geworden, wie Medienwissenschaftler Norbert Bolz kürzlich via Twitter anmerkte. Dass selbst Tracking und der Zugriff auf private Mobilfunkdaten keine Tabuthemen mehr sind, zeigt, wie sehr sich die Wahrnehmung im Bezug auf die Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen bereits verschoben hat. Um Maßnahmen zu rechtfertigen, wurde eine Zeit lang mit der abstrusen „1919+1929“ Formel hantiert. Die Krise sei also der Ausbruch der Spanischen Grippe 1919 plus Weltwirtschaftskrise 1929. Das mag zwar an den Haaren herbeigezogen erscheinen, erwies sich aber als äußerst nützlich, der Bevölkerung den „Ernst der Lage“ zu verdeutlichen und somit die außerordentlichen Maßnahmen zu rechtfertigen. Währenddessen verschleppt man mal wieder die Wahlrechtsreform, den aufgeblähten Bundestag zu verkleinern. Außerdem geht die Forderung der FDP, die Diäten der Politiker diesen Sommer vielleicht einfach mal nicht zu erhöhen, im medialen Krisengetöse unter.

Wo es wehtut

Wie so viele andere Dinge auch anderswo: In den USA wird beispielsweise versucht, während die Öffentlichkeit wegschaut, den „EARN IT“- Act durch den Kongress zu schleichen. Mit diesem soll Strafverfolgungsbehörden eine Hintertür in der Ende-zu-Ende Verschlüsselung bestimmter Messenger-Dienste geöffnet werden, wodurch diesen jedermanns Privatnachrichten zugänglich würden. Auch einige konservative Gouverneure nutzten die mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit aus: Ohio, Texas, Louisiana und Mississippi haben kurzerhand Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe gestellt. Sofern das Leben der Mutter nicht gefährdet ist, können Frauen bei einem Verstoß beispielsweise in Texas mit bis zu 180 Tagen Gefängnis rechnen.

Vor allem in Ostafrika und Südasien drohen im Schatten der Corona-Pandemie die tatsächlichen Katastrophen. Nicht nur, dass das Virus hier auf ohnehin überforderte und schwachbrüstige Gesundheitssysteme sowie oft fragwürdige Hygienebedingungen und Armut trifft. Die Region leidet im Augenblick zusätzlich unter einer Heuschreckenplage, die biblische Ausmaße anzunehmen droht und so die grundlegende Nahrungsversorgung ganzer Landstriche gefährdet. Während wir uns den Kopf zerbrechen, ob Oma und Opa nun zu Ostern ihre Enkelkinder sehen dürfen oder nicht oder nur mit selbstgehäkeltem Mundschutz, summieren sich die Krisen in den traditionell vernachlässigten Teilen der Erde wieder einmal zu existenziellen Bedrohungen, die das Leben ungezählter Menschen zerstören oder beenden werden.

Alles neu – oder eben nicht

Zurück in die heile Welt. Viel wird dieser Tage geschrieben von „Umwälzungen“, davon, dass Corona die Welt, wie wir sie kennen, auf den Kopf stelle, dass die Welt nach Corona eine andere sei. Aber welche der derzeitigen Entwicklungen sind wirklich neu? Überrascht es beispielsweise ernsthaft irgendjemanden, dass Polen die Gelegenheit ausnutzt, um den demokratischen Rechtsstaat weiter zu strapazieren?

Das Unvermögen der Europäischen Union, geschlossen angemessen auf internationale Krisen zu reagieren, ist auch nichts sonderlich neues. Italiens Staatsverschuldung droht im Zuge der Krise auf 160% des BIP zu steigen, jener besorgniserregende Wert, mit dem Griechenland vor nicht allzu langer Zeit die Eurozone in die Krise riss. Wenn man den offiziellen italienischen Zahlen Glauben schenken kann, ist Italien außerdem in Europa mit Abstand am stärksten von der Pandemie betroffen. Diese und ähnliche Zwickmühlen zu lösen, bedürfte eines koordinierten Vorgehens auf europäischer Ebene. Die Krise führt uns jedoch wieder einmal die Tatsachen vor Augen: Je ernster die Lage wahrgenommen wird, desto klarer steht das nationale Interesse vor dem gemeinsamen Interesse, auch innerhalb der EU. Bis diese es geschafft hat, über ihre Institutionen ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedsstaaten zu koordinieren, ist die Krise wahrscheinlich längst vorbei, was sich auch auf das Vertrauen der Bürger in den Staatenbund auswirken dürfte. Die Rückbesinnung auf das nationale Interesse ist ohnehin eine stärker werdende Tendenz der EU, der Brexit wohl deren eindeutigste Manifestation. Die Corona-Krise zeigt, dass auch schwierige Zeiten die Europäische Union nicht wieder zusammenbringen, sondern dass diese Tendenzen langfristig bleiben werden.

Der Rückzug der USA von ihrer Rolle als globale Führungsmacht ist zwar sicherlich nicht neu, aber die derzeitige Krise veranschaulicht diesen Umstand bloß einmal mehr. Die Vereinigten Staaten sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie international noch mehr Verantwortung übernehmen könnten. Jedes Problem wird politisiert; wo die Krise andernorts Menschen über Parteilager hinweg zusammenschweißt und man sich gegenseitig hilft, reißt sie in den USA nur immer tiefere Gräben. Es geht dort längst nicht mehr darum, eine Krise zu lösen, sondern einen Schuldigen für die Krise zu finden. Sei es China, das Trump für den Ausbruch beschuldigt, oder Trump selber, der von der Gegenseite für seine späte Reaktion gescholten wird. Dieser denkt mittlerweile laut darüber nach, die Finanzierung der WHO einzustellen; nach dem Motto „shoot the messenger“. Die USA streifen also ihre alte geopolitische Rolle zunehmend ab; einige Beobachter sehen hier einen Trend zur Multipolarität. Wie allerdings der kürzliche Schlagabtausch mit dem Iran signalisierte, heißt das noch lange nicht, dass die USA auf ihre strategischen Interessen in Übersee verzichten werden. „America First“ hat die Vereinigten Staaten nicht unbedingt ihre Vormachtstellung gekostet, es hat sie einfach nur unberechenbarer gemacht.

Die Krise wird die Welt nicht „auf den Kopf stellen“. Sie ist lediglich der Katalysator für Entwicklungen, die sich entweder schon lange abzeichnen oder im Gange sind. Die Corona-Pandemie hält uns den Spiegel vor und wir beginnen, uns beinahe karikaturenhaft in ihm wiederzuerkennen. Abschließend bleibt zu sagen: Unsere Welt verändert sich stetig, sie verändert sich gerade nur etwas schneller als sonst. Mehr denn je gilt aber auch darauf zu achten, dass einige Dinge so bleiben, wie sie sind.

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