Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

Vietnam-Kantschil (Southern Institute of Ecology/Global Wildlife Conservation/Leibniz Institute for Zoo and Wildlife Research/NCNP)

11.11.2019, Forschungsverbund Berlin e.V.
Nach 28 Jahren wiederentdeckt und erstmals in der Wildnis fotografiert und gefilmt: Das Vietnam-Kantschil
In Zeiten massiver Verluste an biologischer Vielfalt sind Nachrichten vom Aussterben von Tier- und Pflanzenarten die Regel. Doch jetzt können Global Wildlife Conservation (GWC), Southern Institute of Ecology in Vietnam und das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) die Wiederentdeckung einer seit 1990 nicht mehr dokumentierten Tierart vermelden. Das Vietnam-Kantschil – eine rehähnliche, katzengroße Art, die auch als vietnamesischer Maushirsch bekannt ist – wurde von Wildtierkameras im südlichen Teil Vietnams fotografiert und gefilmt.
Dies sind die ersten Aufnahmen lebender Exemplare dieser Huftiere. Sie ist damit die erste wiederentdeckte Art der „Liste der 25 meistgesuchten verlorenen Spezies“ der GWC. Die Wiederentdeckung wurde jetzt in der Fachzeitschrift „Nature Ecology & Evolution“ publiziert und ist Ansporn zur Entwicklung von Schutzmaßnahmen dieser und weiterer einheimischer (endemischer) Arten im Biodiversitäts-Hotspot Südostasien.
Das Forscherteam hatte drei Wildtierkameras für einen Zeitraum von fünf Monaten in der Annamiten-Bergregion im Süden Vietnams installiert, in der Bewohner Sichtungen der Tiere gemeldet hatten. Diese nahmen im Jahr 2018 insgesamt 275 Fotos der Art auf. Das Team richtete dann weitere 29 Kameras in derselben Gegend ein und gelang so im Verlauf weiterer fünf Monate zu unglaublichen 1.881 Fotos des Vietnam-Kantschils. „Trotz der Hinweise aus der Bevölkerung konnten wir nicht sicher sein, was uns erwartet. Ich war also überrascht und überglücklich, als wir die Bilder der Kamerafallen auswerteten und Fotos von einem Kantschil mit silbernen Flanken sahen“, sagt An Nguyen, Associate Conservation Scientist bei der GWC und Leiter dieses Forschungsvorhabens. An Nguyen ist außerdem Feldkoordinator für und Doktorand am Leibniz-IZW. „Für eine sehr lange Zeit existierte diese Art nur noch in unserer Vorstellung. Diese Entdeckung, die bestätigt, dass diese Huftiere tatsächlich noch in der Wildnis leben, ist der erste Schritt um sicherzustellen, dass wir sie nicht wieder verlieren. Wir müssen jetzt schnell handeln, um ein baldiges Aussterben nach der Wiederentdeckung zu verhindern.“
Der Vietnam-Kantschil wurde 1910 auf der Basis von vier Individuen aus Südvietnam beschrieben. Eine russische Expedition im Jahr 1990 nach Zentralvietnam konnte ein fünftes Tier dieser Art aufspüren. Seitdem gab es keine bestätigten Sichtungen. Die Wissenschaft weiß daher nahezu nichts über die Biologie und Ökologie oder den Bedrohungsstatus dieser Art. Die GWC setzte daher das Vietnam-Kantschil auf ihre Liste der 25 meistgesuchten verlorenen Arten. Für die GWC genießt die Art eine hohe Priorität für den Säugetierschutz in Vietnam, ein Arbeitsschwerpunkt der Naturschutzorganisation.
Es gibt zehn bekannte Arten von Kantschilen, oder „Maushirschen“, auf der Welt, die mehrheitlich in Asien beheimatet sind. Trotz ihres umgangssprachlichen Namens sind Kantschile weder mit Mäusen noch mit Hirschen verwandt, sondern stellen die Gruppe der kleinsten Huftiere der Welt dar. Sie sind Einzelgänger, laufen auf der Spitze ihrer Hufe und haben zwei winzige Reißzähne. Ein Kantschil wiegt typischerweise weniger als fünf Kilogramm.
Ein Forscherteam will nun bestimmen, wie groß und stabil die Population von Vietnam-Kantschilen in Südvietnam ist, um die genaue Verbreitung der Art und mögliche Ursachen ihrer Bedrohung besser zu verstehen. Im Rahmen der ersten umfassenden Untersuchung der Art beginnt das Team in Kürze mit Kamera-Fallenuntersuchungen in zwei weiteren Regionen. Die WissenschaftlerInnen werden alle gesammelten Informationen nutzen, um einen Erhaltungsplan für die Art zu entwickeln.
Das Vietnam-Kantschil ist eine von vielen faszinierenden Arten, die in den vielfältigen tropischen Wäldern Südostasiens leben. Von diesen wurden einige Arten erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt. Dazu gehört auch die antilopenähnliche Saola (das asiatische „Einhorn“), die erst 1992 entdeckt wurde und die noch kein Biologe in freier Wildbahn gesehen hat. Tiere in dieser Region der Welt sind zunehmend Opfer einer verheerenden illegalen Jagdmethode – der Verwendung von einfachen, günstigen, selbstgemachten Drahtschlingen. Dieser Wilderei fallen wahllos alle Tiere zum Opfer, die sich darin verfangen, unabhängig davon ob sie zu den Zielarten der Wilderer gehörten. Erst kürzlich zeigte ein WissenschaftlerInnenteam des Leibniz-IZW, dass Drahtschlingen eine größere und direktere Bedrohung der bodenlebenden Säugetiere und Vögel ist als die Degradierung des Regenwaldes durch forstliche Nutzung. Im Truong-Son-Ökosystem, zu dem auch die Region gehört, in der das Vietnam-Kantschil wiederentdeckt wurde, hat diese Wilderei zu „leeren“ Wäldern geführt, in denen zahlreiche Tierarten am Rand des Aussterbens stehen.
Barney Long, Senior Director of Species Conservation bei der GWC, sieht die Wiederentdeckung des Vietnam-Kantschils als großen Erfolg. „Aber die Arbeit beginnt erst jetzt so richtig mit der Wiederentdeckung und den ersten Schutzmaßnahmen, die getroffen wurden – in Zukunft wollen wir nicht nur einige Individuen mit Kamerafallen ablichten, sondern auch einen oder zwei Standorte mit überlebensfähigen Populationen identifizieren, damit wir die Art tatsächlich schützen können.“
„Die Wiederentdeckung des Vietnam-Kantschils gibt auch uns große Hoffnung für den Erhalt der biologischen Vielfalt Vietnams, insbesondere bedrohter Arten“, sagt Hoang Minh Duc, Leiter der Abteilung für Zoologie des Southern Institute of Ecology, einem Institut der Vietnamesischen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Ho Chi Minh-Stadt. „Dies ermutigt uns, zusammen mit unseren internationalen Partnern Zeit und Mühe in die weitere Erforschung und den Erhalt des vietnamesischen Biodiversitätserbes zu investieren.“
Dieses Projekt wurde unter anderem durch die großzügige Unterstützung des Breslauer Zoos, des Auckland Zoos, des Mohamed bin Zayed Species Conservation Fund (Project 172515989) und des Gerald Singer Deer Research Grants der Sainte Croix Biodiversité ermöglicht. Im Leibniz-IZW wurde das Projekt von den Wissenschaftlern Andrew Tilker und Dr. Andreas Wilting unterstützt.
Originalpublikation:
Nguyen A, Tran VB, Huang MD, Nguyen TAM, Nguyen DT, Tran VT, Long B, Meijaard E, Holland J, Wilting A, Tilker A (2019) Camera-trap evidence that the silver-backed chevrotain Tragulus versicolor remains in the wild in Vietnam. Nature Ecology & Evolution. DOI: 10.1038/s41559-019-1027-7

12.11.2019, Universität Wien
Naturschutzforschung in der Praxis anwenden
Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht, viele davon bereits in den nächsten Jahrzehnten. Das sind mehr als jemals zuvor gemessen. Dieser beispiellose Verlust der Artenvielfalt gefährdet wertvolle Ökosysteme und das menschliche Wohlergehen. Doch was hindert uns daran, Erkenntnisse aus der Naturschutzforschung in die Praxis umzusetzen? Zu diesem Thema hat die Fachzeitschrift Biological Conservation eine Sammlung von 14 Beiträgen veröffentlicht. Ein Team um Bea Maas von der Universität Wien zeigt im Leitartikel, warum fachübergreifende Zusammenarbeit entscheidend für den Schutz der globalen Artenvielfalt ist.
Die Weltbevölkerung wächst – und mit ihr der Ressourcenbedarf. Das verlangt nach konsequenten Handlungen zum Schutz der Artenvielfalt. „Das rasante Aussterben zahlreicher Tier- und Pflanzenarten bedroht das natürliche Gleichgewicht unserer Umwelt sowie wertvolle Ressourcen und Leistungen, von denen unser Wohlergehen abhängt,“ sagt Bea Maas vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung. Trotz umfassender wissenschaftlicher Belege und Lösungsansätze mangelt es häufig an der praktischen Umsetzung. „Es besteht ein Missverständnis unter vielen Wissenschaftlern, dass wir Probleme lösen wenn wir nur genügend Beweise schaffen und in die Hände der politischen Entscheidungsträger legen „, sagt die Co-Autorin und Mitherausgeberin Anne Toomey von der amerikanischen Pace University. „Wir wissen jedoch aus der Verhaltensforschung, dass die Umsetzung von Forschung in die Praxis nicht ganz so einfach ist.“
Mehr als Fachwissen
Eine aktuelle Sammlung von 14 Artikeln in der Zeitschrift Biological Conservation thematisiert dieses ungenutzte Potential von Fachwissen und Forschung. Über 90 AutorInnen haben zur Publikation beigetragen und zeigen, welche Herausforderungen in der Umsetzung von Naturschutzmaßnahmen bestehen. Auch Lösungsansätze werden vorgestellt: „Die Arbeiten zeigen, dass WissenschaftlerInnen sich auf einen fachübergreifenden Wandel im Naturschutz vorbereiten und sich über die Vorteile für zukünftige Forschung und Praxis einig sind. Sie machen aber auch deutlich, dass dafür mehr Berücksichtigung von Forschungsergebnissen, Unterstützung und Finanzierung nötig sind“, betont der Co-Autor und Mitherausgeber Rafael Loyola von der Brasilianischen Stiftung für nachhaltige Entwicklung und der Bundesuniversität Goiás.
In ihrem Artikel gehen Maas, Toomey und Loyola drei zentralen Fragen auf den Grund: Setzen wir derzeit die richtigen Prioritäten in der Naturschutzwissenschaft? Dokumentieren und lernen wir aus unseren Fehlern und Misserfolgen? Und: Wie können wir verschiedene Perspektiven bei unseren Entscheidungen besser berücksichtigen?
Bessere Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik und Praxis
Die Publikation beschäftigt sich mit diesen Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie beinhaltet drei globale Übersichtsarbeiten zur Rolle von Umweltbildung, Technologieanwendungen und Fehlerdokumentation im Naturschutz, sowie Fallstudien und Perspektiven zu Themen wie Datennutzung, Kostenplanung, Erfahrungsanalysen und dem Einfluss unterschiedlicher Regierungssysteme auf den Schutz von Artenvielfalt und Natur.
Einfache Antworten sind laut Maas und den Co-AutorInnen nicht zu finden. In einem Punkt sind sich die ForscherInnen jedoch einig, wie Maas betont: „Naturschutzforscher müssen lernen, die Räume zwischen Forschung und Umsetzung besser zu navigieren. Der Schlüssel dazu liegt in einer zeitnahen und verbesserten Zusammenarbeit zwischen naturschutzrelevanter Wissenschaft, Politik und Praxis“.
Originalpublikation:
Maas, B., Toomey, A., Loyola, R. (2019). Exploring and expanding the spaces between research and implementation in conservation science. Biological Conservation.
DOI: 10.1016/j.biocon.2019.108290

12.11.2019, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Flotte Flosse – Morphometrie bei den Pachycormidae
Ein Wissenschaftlerteam unter Beteiligung von SNSB-Forscherin Anneke van Heteren hat gezeigt, dass eine Gruppe von Fischen aus dem Zeitalter der Dinosaurier, die ausgestorbenen Pachycormidae, bereits sehr effizient durch die Ozeane der Jura- und Kreidezeit „flogen“ – dank der speziellen Form ihrer Brustflossen. Die Ergebnisse der neuen Studie wurden kürzlich in der Fachzeitschrift PeerJ veröffentlicht.
Pachycormidae sind eine ausgestorbene Familie mariner Knochenfische aus der Jura- und Kreidezeit. Viele von ihnen wurden weniger als einen Meter lang und ernährten sich von Tintenfischen, einige Gattungen wie z.B. Leedsichthys lebten als riesige filtrierende Planktonfresser und hatten eine Länge von bis zu 16 Metern. Besonderes Merkmal der Pachycormidae sind ihre langen sensenförmigen Brustflossen.
Ein internationales Forscherteam aus Deutschland, Schottland, den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und Luxemburg hat nun die wissenschaftlich bisher kaum beachteten Brustflossen dieser Fischgruppe an rund 100 Fossilien genauer untersucht und verglichen.
Jeff Liston, Leiter der Studie, beschreibt die Herausforderung: „Bisher wurden die Brustflossen der Pachycormiden einfach als sensenförmig beschrieben. Mit morphometrischen Methoden können wir nun genauere Aussagen über die Lebensweise dieser Fische treffen.“
Um die Unterschiede in der Form und Funktion der Brustflossen bei den Pachycormidae aufzudecken, haben die Forscher diese mit sogenannten „Landmarks“, biologisch bedeutsamen und wiedererkennbaren Messpunkten, versehen und diese digitalisiert. Die Messergebnisse wurden mittels einer statistischen Methode, der sogenannten geometrischen Morphometrie, ausgewertet.
Was bisher stets als „einfache sensenförmige Brustflosse“ beschrieben wurde, konnte nun drei verschiedenen „Typen“ an Brustflossen zugeordnet werden: sensen-, klingen- und sichelförmig. Den Wissenschaftlern zufolge deuten die unterschiedlichen Flossenformen auf unterschiedliche Lebensweisen bei den Pachycormidae hin. Beispielsweise hatten alle Planktonfresser wie die Gattung Leedsichthys – egal wie viele Millionen Jahre auseinander – eine Brustflossenform, die bei niedrigen Geschwindigkeiten maximalen Auftrieb auf Kosten der hohen Manövrierfähigkeit brachte. Das bedeutete, dass sie groß werden konnten, während sie ihre Position in der Wassersäule mit minimalem Aufwand beibehielten.
Wie Anneke van Heteren, Kuratorin an der SNSB-Zoologischen Staatssammlung München bemerkte: „Einer der entscheidenden Faktoren für den Gigantismus bei Planktonfressern ist die Erzeugung von genügend Auftrieb, so dass sich die Tiere durch das Wasser bewegen und effizient fressen können. Durch die Entwicklung einer klingenförmigen Brustflosse wurde Leedsichthys zum größten Fisch mit Strahlflossen, den die Wissenschaft kennt.“
Das Forscherteam erhofft sich nun, durch die weitere Analyse der Brustflossenformen auch neue Erkenntnisse zu Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Familie der Pachycormidae zu erhalten.
Originalpublikation:
Liston JL, Maltese AE, Lambers PH, Delsate D, Harcourt-Smith WEH and van Hetern AH. Scythes, sickles and other blades: defining the diversity of pectoral fin morphotypes in Pachycormiformes. PeerJ. DOI 10.7717/peerj.7675

14.11.2019, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Entlastet: Amerikanische Pantoffelschnecke
Senckenberg-Forschende haben mit einem deutschen Team das Vorkommen der Europäischen Auster und der invasiven Amerikanischen Pantoffelschnecke in der Nordsee über einen Zeitraum von 200 Jahren untersucht. Grundlage für die Studie waren mehrere wissenschaftliche Sammlungen aus den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die Wissenschaftler*innen kommen zu dem Schluss, dass die eingewanderte Schnecke zu Unrecht für das Aussterben der heimischen Auster verantwortlich gemacht wurde. Die Studie erschien kürzlich im Fachjournal „PLoS ONE“.
Auf der Roten Liste Deutschlands ist die Europäische Auster (Ostrea edulis) als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft – seit den 1940er Jahren galt sie im deutschen Teil der Nordsee als ausgestorben, aktuell ist sie wieder in sehr kleinen Populationen zu finden.
„Vor etwa 200 Jahren war die Austernfischerei in der Nordsee noch ein florierendes Geschäft“, erklärt Dr. Dieter Fiege vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „In den darauffolgenden Jahren nahmen die Bestände von Ostrea edulis aber kontinuierlich ab. Als Grund für den starken Rückgang der Austern wurde, neben der starken Befischung, den kalten Wintern oder Krankheiten, auch das Auftreten der invasiven Pantoffelschnecke Crepidula fornicata vermutet“.
Diese Gastropoden-Art ist ursprünglich an den Küsten der USA, Mexikos und Kanadas beheimatet und wurde 1870 zusammen mit Austern, die für Kulturzwecke bestimmt waren, eingeschleppt. Heute ist sie von Südnorwegen bis nach Spanien zu finden. In Deutschland ist sie seit 1934 nachgewiesen. Die sich schnell ausbreitende Pantoffelschnecke galt lange Zeit – ohne wissenschaftlichen Beleg – als ein starker Nahrungskonkurrent der Austern, da sie sich ebenfalls als Filtrierer ernährt.
Fiege hat mit einem deutschen Team die Zusammenhänge zwischen dem Auftreten der Amerikanischen Pantoffelschnecke und der Europäischen Auster im Nordseegebiet untersucht. Hierfür werteten die Forschenden insgesamt 1750 Austern- sowie 739 Pantoffelschnecken-Individuen aus verschiedenen europäischen Sammlungen aus, die zwischen 1820 und 2018 gesammelt wurden.
Die Forschenden zeigen anhand dieser historischen Belegobjekte, dass der massive Einbruch der Austern-Populationen bereits vor der Ausbreitung der eingeführten Pantoffelschnecke stattfand. „Die Schnecke wurde demnach zu Unrecht verdächtigt am Rückgang der Austern in der Nordsee verantwortlich zu sein“, erläutert Fiege und ergänzt: „Warum die Europäische Auster sich trotz guter Rahmenbedingungen nicht mehr flächendeckend in der Nordsee ansiedelte, bleibt aber bislang ungeklärt.“
Prof. Dr. Angelika Brandt, Senckenberg-Abteilungsleiterin Marine Zoologie schließt: „Unsere Studie zeigt erneut, dass naturwissenschaftliche Sammlungen sowohl für die Biodiversitätsforschung, als auch für angewandte Umweltforschung von grundlegender Bedeutung sind! Es sind archivierte Belege anhand denen sich die Lebensbedingungen und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit dokumentieren lassen. Sie bilden damit nicht zuletzt die Grundlage für die Beantwortung heutiger wissenschaftlicher Fragen.“
Originalpublikation:
Hayer S, Bick A, Brandt A, Ewers-Saucedo C, Fiege D, Fu¨ting S, et al. (2019) Coming and going – Historical distributions of the European oyster Ostrea edulis Linnaeus, 1758 and the
introduced slipper limpet Crepidula
fornicata Linnaeus, 1758 in the North Sea. PLoS ONE 14(10): e0224249. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0224249

14.11.2019, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Auf den Zahn gefühlt: Fossile Zähne belegen neue asiatische Hirschferkel-Art
SNSB-Paläontologin Gertrud Rößner identifiziert eine bisher unerkannte ausgestorbene Hirschferkel-Art aus Pakistan durch die morphometrische Vermessung von fossilen Zähnen. Die Ergebnisse der Studie veröffentlichte sie kürzlich gemeinsam mit einem Kollegen in der paläontologischen Fachzeitschrift Historical Biology.
Hirschferkel (Tragulidae) gehören zur großen Gruppe der Wiederkäuer (Ruminantia). Sie sind Paarhufer und entfernt verwandt mit Hirschen oder Giraffen. Jedoch haben die Tiere nur eine Schulterhöhe von 20 bis 35 cm und tragen keinerlei Kopfschmuck. Eines der vielen besonderen Merkmale der Hirschferkel sind die verlängerten oberen Eckzähne der Männchen. Heute leben Hirschferkel nur noch in Reliktarealen in Zentralafrika und Südost-Asien. Zur Zeit des Miozän (23-5 Mio. Jahre) gab es die Tiere auch in Europa.
Gertrud Rößner, Konservatorin für fossile Säugetiere an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG), hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Jonathan Guzmán-Sandoval, von der Universidad de Concepión, Chile, Fossilien der von 14 bis 6 Mio. Jahren in Pakistan lebenden Hirschferkel neu untersucht und bewertet – und zwar anhand ihrer Zähne. Die Ergebnisse der Studie überraschte das Wissenschaftlerteam: Die beiden entdeckten mit Dorcatherium dehmi sp. nov. eine völlig neue Hirschferkel-Art. Außerdem konnten die Paläontologen zwei Hirschferkel-Arten, Dorcatherium naui und Dorcatherium guntianum, identifizieren, die bislang nur aus Europa bekannt waren.
„Wir konnten nun erstmals nachweisen, dass es Hirschferkel-Arten gab, die zeitgleich sowohl in Europa als auch in Asien beheimatet waren“, erläutert Gertrud Rößner. „Dies deutet auf Wanderbewegungen der Tiere zwischen Europa und Asien zur Zeit des Miozän hin.“
In ihrer Studie haben die beiden Paläontologen über 200 Zahnfossilien aus der BSPG analysiert. Diese stammen aus den Siwaliks, einer Vorgebirgskette des südlichen Himalaya in Pakistan, die aus im Miozän gebildeten Gesteinen besteht und reich an Säugetierfossilien ist. Aufgesammelt wurden die Fossilien schon 1955/56 während einer Expedition, die der damalige Direktor der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und historische Geologie, Prof. Richard Dehm, durchführte. Das Material ergänzt bisherige Untersuchungen an pakistanischen Hirschferkeln substanziell. Die angewendete Methodik berücksichtigt nicht nur wie in früheren Studien Länge und Breite der Zähne zur Unterscheidung der Arten, sondern erstmals auch die Zahnkronenhöhe und damit in Zusammenhang stehende Formelemente der Zahnkrone. Damit konnten bisher übersehene Arten erkannt werden.
Die Forscher erhoffen sich, durch zukünftige Entdeckungen in den fossilienreichen Siwaliks ihr Wissen über die Vielfalt sowie die zeitliche und räumliche Verbreitung von Hirschferkeln im Miozän erweitern zu können.
Originalpublikation:
Jonathan A. Guzmán-Sandoval & Gertrud E. Rössner (2019) Miocene chevrotains (Mammalia, Artiodactyla, Tragulidae) from Pakistan, Historical Biology, DOI: 10.1080/08912963.2019.1661405

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