Warte, bis du unten bist

„Ruhe!!“, rief die Schwimmlehrerin. „Jetzt, Herrschaften, sperrt eure Ohren auf!“

Wir hatten Schwimmen in der vierten Klasse, standen um das tiefe Becken im Hallenbad herum und warteten darauf, die Prüfungen für das Fahrtenschwimmer-Abzeichen abzulegen. Dazu gehörte, sich eine halbe Stunde im tiefen Wasser aufzuhalten und vier Bahnen Rückenschwimmen. Das hatten wir hinter uns. Jetzt stand noch der Sprung vom Dreimeterbrett an.

„Also“, fuhr die Lehrerin fort. „Ihr geht nacheinander rauf und wenn ich pfeife, geht immer nur einer vor und springt. Wartet, bis ihr unten seid. Nicht mit den Armen rudern, bis ihr wieder auftaucht. Klar?“

„Warum?“, fragte ich. „Sollen wir uns unter Wasser nicht bewegen?“

„Weil du, wenn du mit den Armen ruderst, beim Abtauchen nicht schnell genug nach unten kommst und folglich auch nicht schnell genug wieder herauf, dann geht dir die Luft aus, du schnappst nach Luft, atmest Wasser ein, säufst ab – und wir müssen dich retten.“

Alle lachten. Ich sah ängstlich zu dem Turm hinauf, er kam mir so hoch vor wie der Eiffelturm, mindestens so hoch. Irgendwie halfen mir die Worte der Lehrerin nicht, die Angst zu vertreiben. Ich sah an mir hinunter auf meine Füße. Ein paar Jungen meinten: „He, das ist gar kein Problem, spring einfach, warte bis du unten bist, der Rest geht von allein.“
Das Mädchen, das vor mir dran war, stand eine halbe Ewigkeit vorne auf dem Sprungbrett. Trotz vieler Anfeuerungsrufe schaffte sie den Absprung nicht und musste, kalkweiß im Gesicht, den Dreimeterturm wieder hinunterklettern. Schließlich kam ich an die Reihe. Meine Knie zitterten, als ich die Stufen hinaufstieg und nach dem Pfiff auf dem schwankenden Brett nach vorne ging. Ich sah hinunter und mir wurde plötzlich schwindlig, ich hatte das Gefühl zu schwanken, Angst zu fallen und hätte am liebsten geschrien.

„NICHT runterschauen!“, rief die Lehrerin plötzlich. „JETZT spring!“ Und ich sprang.

Die Schwerkraft zog mich schnell unter Wasser, ich fühlte, wie mein Körper, mein Geist und meine Seele, quasi meine ganze Existenz von Wasser umgeben war. Ich sah strudeliges hellblau und weiße Luftblasen. Als meine Füße den Boden berührten, wollte ich mich abstoßen, aber das brauchte ich gar nicht, denn ich wurde schon wieder nach oben getrieben, holte Luft, als ich an die Oberfläche kam und kletterte heraus. Die Lehrerin nickte und machte ein Häkchen hinter meinem Namen. Ich hatte bestanden.

Warte, bis du unten bist! Diese Regel ist mir später noch häufig eingefallen, wenn einiges schiefgegangen war und ich mich erst wieder neu orientieren musste oder wenn ich ein Kind wegen schlechter Noten, Sportverletzungen oder Liebeskummer tröstete. Oft ist es das Beste, diesen Zustand einmal auszuhalten anstatt sofort mit Trostversuchen anzufangen.
Den Schmerz gemeinsam aushalten und trotz allem momentanen Unglück so fest an die Selbstheilungskräfte der Seele zu glauben wie daran, dass einen das Wasser trägt und wieder nach oben bringt, hilft besser als vorschnell Lösungen anzubieten. Denn springen und die Erfahrung des Abtauchens und nach-oben-Getragen-werdens muss doch jeder selbst machen.

„Darf ich nochmal springen?“, fragte ich am Schluss der Stunde.

„Nein!“, erwiderte die Lehrerin.

„Wieso nicht?“, hakte ich übermütig nach. „Ich trau mich jetzt!“

„Ich weiß!“, meinte die Lehrerin lakonisch. „Was glaubt ihr, warum wir diese Sache mit euch machen? Damit ihr vom Turm springen könnt? Das braucht ihr vielleicht nie mehr. Nein, dass ihr Mut aufbringt und dass zum Beispiel Fräulein Naseweis lernt, dass man nicht alles erklären kann, sondern selbst erfahren muss. Wenn ihr wollt, könnt ihr dann meinetwegen hundertmal vom Turm springen, aber nicht heute.“

Sie sah auf die Uhr. „Wir sind sowieso schon wieder 16 Minuten über der Zeit.“

 

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Warte, bis du unten bist - Glosse von Ruth Hanke
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