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Ich war ziemlich geschockt vom Wetter und der Kälte

 Raffael Altieri, geboren am 6.3.1949 in Irsina / Italien, seit 1968 in Remscheid:

Irsina ist ein Ort in der Provinz Matera in der italienischen Region Basilikata. In Irsina leben 5399 Einwohner (Stand am 30. November 2006). Der Ort liegt 48 km westlich von Matera. Die Nachbargemeinden sind Genzano di Lucania (PZ), Grassano, Gravina in Puglia (BA), Grottole, Oppido Lucano (PZ), Tolve (PZ) und Tricarico.

Ich komme aus Italien, der Provinz Matera, aus dem Dorf Irsina. Ich bin im Februar 1968 im Alter von 19 Jahren nach Remscheid gekommen. Damals, als ich aus meinem Dorf wegging, lebten dort ca.18.000 Menschen. Ich habe in Italien fünf Jahre die Schule besucht. Ich galt mit diesen fünf Jahren Schulbesuch als durchaus gebildet, die meisten Menschen in Italien besuchten damals nur ungefähr zwei Jahre oder gar nicht eine Schule. In Italien habe ich in der Landwirtschaft als Schweinehüter gearbeitet, ich habe damals 19.000 Lire monatlich verdient, also umgerechnet 9 Euro. Das war nicht viel, davon war kein (gutes) Leben möglich. Ich habe dann in Italien ohne Papier im Baugewerbe gearbeitet, ca. 1 ½ Jahre und mir dabei einige Kenntnisse erworben. Das wurde auch relativ gut bezahlt, ich habe täglich ungefähr 10.000 Lire verdient, dass sind heute umgerechnet ca. fünf Euro. In Italien gab es damals nur wenig Arbeit und noch weniger Geld. (weiter 2. Seite)

Klicken führt zum'Zeitstrahl' der Ausstellung Zur 200-Jahr-Feier der Stadt Remscheid stellte Heike Hildebrandt vom damaligen Migrationsbüro der Stadt eine Ausstellung („Zeitzeugen-Projekt“) zusammen mit Schilderungen zahlreicher „Zeitzeugen der Zuwanderung“, deren neue Heimat Remscheid geworden war. Das ist jetzt zehn Jahre her. Doch die Geschichten sind es wert, nach vorne gestellt zu werden. Denn darin erzählen die „Zugereisten“, warum sie ihre Heimat verlassen haben, wie sie hier in Remscheid ankamen, welche Erwartungen, welche Hoffnungen, welche Enttäuschungen sie erlebten und warum sie sich trotzdem mit Remscheid verbunden fühlen. Zuwanderung begann aber nicht erst mit den "Gastarbeitern", sondern schon Ende des 19. Jahrhunderts mit italienischen Straßenbauern. Und nach dem nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Vertriebene, Flüchtlinge und Heimatlose.

Ein Schwager, der bereits seit einigen Jahren in Bochum arbeitete, erzählte von den guten Verdienstmöglichkeiten in Deutschland und dass in Deutschland Arbeitskräfte gesucht werden. In meinem Nachbardorf Gravina lebte damals auch die Familie von Giovanni Verceto. Giovanni hatte in Remscheid schon vor einigen Jahren bei der Firma Dohrmann Arbeit gefunden. Giovanni hatte dann erzählt, dass sein Chef immer noch Arbeitskräfte suche; er hat für die Firma Arbeitskräfte aus Italien angeworben. Wir sind dann mit zehn Personen aus meinem Dorf mit dem Zug von Bari über Köln und Solingen nach Remscheid gereist.

Als ich in Remscheid ankam, war das erste was ich sah, Schnee, ich war ziemlich geschockt von dem Wetter und der Kälte hier. Vom Remscheider Bahnhof sind wir mit einem Taxi in die Lohengrinstraße gefahren, dort hat ein Mitarbeiter – Giuseppe Labolla - der Firma Dohrmann auf uns gewartet. In der Lohengrinstraße hatte die Fa. Dohrmann Werkswohnungen gebaut, alles kleine Appartements. Die Appartements waren mit zwei, vier und sechs Personen belegt. Es gab eine Gemeinschaftsküche; Duschen und Toiletten waren extra auf dem Flur. Jeder von uns hatte sein eigenes Geschirr, die Kochgelegenheiten in der Gemeinschaftsküche waren auf die jeweiligen Appartements abgestellt.

Als ich damals, im Februar 1968 in Remscheid ankam, hatte ich ca. 30.000 Lire dabei, das waren umgerechnet ca. 15 Euro. Das musste bis zur ersten Lohnzahlung reichen!! Am nächsten Tag sollte ich mit der Arbeit bei der Fa. Dohrmann beginnen, da bekam ich den nächsten Schock: das Handwerkszeug Hacke und Schüppe war für mich kleinen Italienern viel zu groß und viel zu schwer. Ich musste mich unheimlich anstrengen.

Bei Dohrmann arbeitete bereits ein Spanier, der hat mir geholfen, wenn ich mich in der Firma verständigen musste. Ein Jahr lang habe ich jeden Tag neue Sprachgebräuche in deutsch vom Polier gelernt; das erfolgte überwiegend durch Arbeitsanweisungen, z.B. „Hol die Hacke“ oder „Hol die Eimer“. Ich war bei Dohrmann als Hilfsarbeiter beschäftigt. Mein Stundenlohn  betrug damals 4,15 DM; ich habe jeden Tag zehn bis zwölf Stunden gearbeitet, samstags fünf Stunden. Die deutschen Kollegen hatten damals 50 Pfennig mehr Stundenlohn.

Klicken führt zum 'Zeitstrahl' der AusstellungDurch die Unterbringung in der Werkswohnung in der Lohengrinstraße fiel für uns keine Miete an. Aber Einkaufen war schwierig, da ich kein deutsch sprach. Wir hatten aber Hilfe von Landsleuten, die bereits in Remscheid lebten. Manchmal, wenn kein Landsmann beim Einkauf helfen konnte, habe ich meine Einkaufswünsche mit Händen und Füssen erklärt oder nur mit den Fingern darauf gezeigt oder durch Tierlaute in der Metzgerei Huckenbeck mich verständlich gemacht. Ich habe z.B. gegrunzt, wenn ich ein Stück Schweinefleisch kaufen wollte, oder wie ein Hahn gekräht, wenn ich Hähnchenfleisch wollte.

Kontakte zu meiner Familie nach Hause waren nur möglich über angemeldete Telefonate  bei der Post am Friedrich Ebert Platz. Damals war die Verbindung so schlecht, man musste immer ins Telefon brüllen. Ein Telefonat kostete zwischen fünf und acht DM, das war viel Geld. Manchmal war die Verbindung so schlecht, dass das Telefonat abgebrochen werden musste. Es gab auch häufig Situationen, dass die Telefonleitung der deutschen Post zwar frei waren, aber eine Verbindung ins italienische Telefonnetz nicht funktionierte. Da habe ich oft mehr als eine Stunde gebraucht, um überhaupt Kontakt zur Familie nach Italien zu haben.

Damals gab es am Markt ein Kino. Dort haben wir einmal in der Woche, am Wochenende, italienische Filme gucken können. Auf der Alleestraße, auf Höhe des Schuhgeschäftes Rohr, gab es damals eine italienische Bar mit dem Namen Conti. Zur Nachbarschaft in der Lohengrinstraße gab es keinen Kontakt. Die deutschen Nachbarn haben uns mit Argusaugen betrachtet, insbesondere wenn wir nach italienischer Mentalität den hübschen Mädchen im Vorbeigehen Komplimente machten, z.B.“Oh, schöne Beine“. Es war schon sehr interessant, für die italienischen Gedanken die deutschen Worte zu erfahren! Aber die Mädchen haben oft gelacht.

Manche Nachbarn verlangten, dass wir deutsch sprechen, aber wir hatten nur die Möglichkeit deutsch zu lernen durch Kontakte in der Arbeit und beim Einkaufen. Einige Jahre später gab es dann Schulungsangebote für die deutsche Sprache von der Katholischen Kirche. Für mich war es nicht möglich, daran teilzunehmen nach einem 12-Stunden-Arbeitstag.

Ich habe 1972 geheiratet. Meine Frau war auch im September 1968 mit ihrer Familie nach Remscheid gekommen. Sie war damals 13 Jahre alt, als sie nach Remscheid kam. Die Familie hat in Lennep gewohnt. Meine Frau hat damals als junges Mädchen in Lennep noch zwei, drei Jahre eine Schule besucht. Dadurch hat sie auch deutsch gelernt, sie spricht besser deutsch als ich, aber diese Deutschkenntnisse haben nicht ausgereicht, um unseren Kindern in der Schule helfen zu können. Diese zwei, drei Jahre in Remscheid waren übrigens der einzige Schulbesuch. In Italien war das zu dieser Zeit nicht üblich.

Eines Tages, als die Firma Dohrmann für die Firma Mäuler gebaut hat, habe ich mal keine Frühstückspause mit meinen Kollegen gemacht, sondern bin einfach hergegangen und habe ein paar Mauersteine mit dem bereits fertigen Speis in die schon teilweise vorhanden Mauer eingemauert. Nach der Frühstückspause ist dem Polier das natürlich aufgefallen. Es gab zunächst einen Brüller: „Wer war das?“. Ich hatte Angst, habe aber gesagt, dass ich das gemacht habe. Der Polier hat das dann dem Chef, Herrn Kleinschmidt, erzählt. Mein Interesse an besserer Arbeit ist sofort gut angekommen. Ich habe dann von den beiden viele Tipps für den Beruf des Maurers erhalten und habe mich hochgearbeitet bis zum Polier. Ich habe dann auch sehr schnell einen höheren Stundenlohn bekommen, nämlich eine DM mehr pro Stunde. Insgesamt lag der Verdienst dann bei 600 bis 700 DM netto, das war viel Geld.

Von den deutschen Kollegen wurde ich gut aufgenommen, es gab keine Probleme. Nur wenn es mal Terminarbeiten gab, war ich der erste, der samstags arbeiten sollte. Aber wenn ich mal einen Fehler gemacht habe, wurde ich nicht anders oder schlechter behandelt als meine deutschen Kollegen.

Nach meiner Hochzeit habe ich dann in der Richthofenstraße eine Dachgeschosswohnung von 25 qm bezogen. Die Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer, Wasser musste erst in die Wohnung geholt und dort warm gemacht werden, die Wäsche wurde auf der Hand gewaschen.

Mein Sohn ist 1973 hier in Remscheid geboren. Wir haben mit drei Personen in der 25 qm Dachgeschosswohnung gelebt. Aber ich hatte Glück und bekam eine 2-Zimmer-Wohnung von 40 m2 in Lennep. Dort war die Toilette auf derselben Etage im Flur. Der Verdienst lag zu dieser Zeit bei ca. 1100 bis 1200 DM netto, die Miete bei 250 DM, hinzu kamen noch Strom- und Heizungskosten.

1975 wurde das Geld hier für die Familie ziemlich knapp, da bin ich mit Frau und Sohn zurück nach Italien gegangen; gespart hatten wir allerdings nichts. Ich habe in Italien versucht, mich selbständig zu machen. Das hat aber nicht geklappt. Dann bin ich 1980 mit meiner Familie wieder nach Remscheid gezogen. In der Zeit in Italien wurden 1976 und 1978 meine Tochter und mein zweiter Sohn geboren.

Als wir 1980 zurück von Italien nach Remscheid kamen, musste mein älterer Sohn sofort eingeschult werden, er sprach kein Wort deutsch. Ich konnte sofort wieder bei der Firma Dohrmann Arbeit finden, das war ein Zeichen, dass ich vorher gute Arbeit geleistet hatte. Die Arbeit war immer schwer, aber der Verdienst bei Dohrmann hat mir und meiner Familie mein Brot gegeben. Ich habe bei Dohrmann viel gelernt, über Hochbau und Tiefbau. Natürlich habe ich jetzt gesundheitliche Probleme, aber das bringt der Beruf eben mit sich.

Ich konnte auch sofort wieder eine Werkswohnung von Dohrmann mit meiner Familie beziehen. Die Wohnung war 85 qm groß und hatte zwei Kinderzimmer, das war Luxus. Diese Wohnung habe ich im Laufe der Zeit umfangreich renoviert. 1989 hat Dohrmann das Haus verkauft. Mit dem neuen Eigentümer aus der Türkei bin ich nicht zurecht gekommen, da bin ich ausgezogen.

Über meine Frau und Firma Dohrmann hatten und haben wir viele gute Kontakte zu Nachbarn und allen anderen. Wir haben viele Freunde, auch viele Deutsche. Seit ich wieder in Remscheid bin, bin ich glücklich. Ich fühle mich sicher. Ich fühle mich auch finanziell abgesichert durch meinen Verdienst, durch meine Arbeit. Für meine Verhältnisse bin ich gesellschaftlich aufgestiegen, vom Stall zum Stern. Damals in Italien war ich ein Nichts. Hier in Remscheid habe ich es durch meine Arbeit zu etwas gebracht:

Ich habe jetzt eine Eigentumswohnung in Remscheid und in Italien eine 143 qm große Villa mit zwei Garagen. Ob ich nach Italien zurückgehe, weiß ich noch nicht. Ich habe zwar in Italien ein schönes Haus, beherrsche auch meine Muttersprache viel, viel besser als deutsch, aber wenn ich krank werde und ärztliche Hilfe benötige, ist die Versorgung in Italien nicht so gut. Die Medizin ist zwar auf demselben wissenschaftlichen Stand, aber das Versorgungsnetz ist nicht so eng, es gibt nicht so viele Ärzte und Krankenhäuser. Wichtig war und ist, schnellstens Kontakte herzustellen. Das geht nur über die deutsche Sprache und zwar in jeder Lebenslage.

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