NRZ: Selbstgefälligkeit reicht nicht aus – ein Kommentar von JAN JESSEN

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Die Bundeskanzlerin hätte ihre Sommer-Konferenz für
Selbstkritik nutzen können. Beispielsweise dafür, einzugestehen, dass
die deutsche Politik versagt hat, weil sie nicht auf die steigenden
Flüchtlingszahlen vorbereitet war, trotz der Vielzahl an Kriegen und
Konflikten in der Welt. Angela Merkel hätte auch die mangelnde
Solidarität in Europa kritisieren können, das schäbige Verhalten
Großbritanniens oder mancher osteuropäischer Länder, die sich ihrer
Verantwortung entziehen. All das hat die Bundeskanzlerin nicht getan,
sondern das anständige Deutschland gelobt und den Hass verurteilt.
Kein großes Ding. Das machen heute viele. Das helle, das gute
Deutschland erregt sich routiniert über den plumpen Menschenhass auf
der Straße und im Netz und putzt ebenso routiniert die Fremdenfeinde
herunter, ganz oft auch mit einer gewissen bildungsbürgerlichen
Überheblichkeit (“Die doofen Nazis können noch nicht einmal
Rechtschreibung”). Moderatoren, Politiker, Entertainer, Journalisten
werden gefeiert, wenn sie sich gegen Fremdenfeindlichkeit äußern. Es
wird gesagt, sie seien mutig, wenn sie nur Selbstverständliches von
sich geben. Man klopft sich gegenseitig auf die Schultern, weil man
Flüchtlinge willkommen heißt (was ebenfalls selbstverständlich sein
sollte) und man vergewissert sich immer wieder, dass man auf der
guten Seite ist. Der Aufstand der Anständigen riecht mittlerweile ein
wenig nach Selbstgefälligkeit. Kein Vertun: Es ist gut, dass sich so
viele engagieren, für Flüchtlinge und gegen den Hass. Aber das
Abspulen von Erregungs- und Selbstbestätigungsritualen reicht nicht
aus. Gesellschaft und Politik müssen sich mit den Ursachen von Hass
und Menschenfeindlichkeit genauso beschäftigen, wie mit den Ursachen
von Flucht. Zu Hass und Menschenfeindlichkeit tragen prekäre Arbeits-
und Lebensverhältnisse bei, Mängel im Bildungssystem und in der
Jugendarbeit oder eine immer weiter auseinanderklaffende Schere
zwischen Arm und Reich. Zu den Ursachen von Flucht gehören eine
verfehlte Außenpolitik, die sich mit Diktatoren und despotischen
Regimen gemein macht, solange sie genehm sind, und eine
Rüstungspolitik, dank der Waffen in alle Welt exportiert und
Konflikte angeheizt werden. Oder eine Globalisierung, in der der
Reichtum der einen auf der Ausbeutung von anderen beruht und ein
Weltwirtschaftssystem, in dem staatsgefährdende Zockerei an den
Finanzmärkten noch immer möglich ist. Über all diese Dinge muss auch
gesprochen werden, beim Aufstand der Anständigen. Es darf der Politik
nicht zu einfach gemacht werden, ihre Fehler mit wohlklingenden
Phrasen zu kaschieren.

Pressekontakt:
Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung
Redaktion

Telefon: 0201/8042616



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